Was macht eigentlich die Gruppe der Elisabethenfrauen?

Als ich gefragt wurde, ob ich die Elisabethenfrauen der Liebfrauenkirche für den Blog interviewe, hab ich gerne zugesagt. Zum einen natürlich wegen des Namens! Zum anderen hatte ich schon im anderen Zusammenhang über den Elisabethenverein, den es in Deutschland schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab, gelesen.

Mich interessierte, was die Frauen heute in Cannstatt machen.

Treffen der Elisabethenfrauen

Viele Elisabethenvereine wurden in Deutschland nach 1848 gegründet

Aber zunächst mal ein Blick in die Geschichte:

Elisabethenvereine wurden nach den Revolutionsjahren um1848 überall in den katholischen Gemeinden in Deutschland gegründet, auch in Stuttgart. Die Frauen nahmen sich die Heilige Elisabeth von Thüringen zum Vorbild, die den Armen Nahrung gab. Diese Heilige war in Deutschland sehr beliebt und so wurde auch in der Liebfrauengemeinde zu ihrem 700. Todestag im Jahr 1931 bei einer großen Feier an sie erinnert.

Gründung des Elisabethenvereins in Cannstatt 1928

Elisabeth von Thüringen pflegt Kranke (Elisabethkirche in Marburg)

In Cannstatt wurde der Elisabethenverein 1928 gegründet – parallel zum Vinzenzverein für die Männer.

Sie wollten die Not der Menschen in ihrer Gemeinde lindern und bemühten sich „…etwas Wärme, Liebe, Sonne und Freude in die Stuben unserer Armen und Kranken zu bringen.“ So hieß es im jährlichen Bericht in den Kirchlichen Mitteilungen von 1930.

In diesem Jahr unterstützte der Verein 35 Einzelpersonen und 60 Familien. Die Unterstützung bestand teilweise aus Geldspenden, meist aber aus Lebensmitteln und Kohlen. In der Nachkriegszeit kam dann noch Bettwäsche, Kleidung und Hausrat für Ausgebombte und Flüchtlinge dazu. Ganz wichtig war auch jedes Jahr die Unterstützung der Familien der Erstkommunionkinder, damit auch sie ihre Kinder entsprechend ausstatten konnten.

Es bestand die Möglichkeit, ein nur förderndes oder aber ein aktives Mitglied zu werden. Über die Mitgliedsbeiträge und zusätzliche Sammlungen wurden die Unterstützungen für die bedürftigen Menschen finanziert.

Spenden an Bedürftige

Die Einnahmen betrugen im Jahr 1949 4.500 DM. Davon zahlte die Gruppe 2.800 DM in bar an bedürftige Personen/Familien. Für 1.300 DM wurden Lebensmittel eingekauft, die dann von den Elisabethenfrauen übergeben wurden. 400 DM erhielten die Familien der Kommunionkinder als Unterstützung.

Es ging aber nicht nur um die finanzielle oder materielle Unterstützung. Ganz wichtig waren die Besuche der Elisabethenfrauen, um die Spenden persönlich zu übergeben. Es ging auch darum, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, sie bei Problemen zu beraten.
Laut Bericht der Diözese bestand die Hauptaufgabe der Elisabethenkonferenzen, wie die Gruppen auch genannt wurden, bei Hausbesuchen „… wachen Auges die Not aufzuspüren und in diskreter Weise zu lindern.“

Es war immer schrwierig neue Frauen für die Gruppe zu finden

Die Zahl der aktiven Elisabethenfrauen nahm allerdings immer mehr ab. Immer wieder berichteten sie, wie schwierig es sei, junge Frauen für ihre Gruppe zu gewinnen. 1950 waren es noch 17 Frauen, 1970 waren es nur noch 11 Frauen, die sich einmal im Monat trafen und die Aufgaben unter sich verteilten. Allerdings konnten für einzelne Aufgaben immer wieder zusätzliche Helferinnen gewonnen werden.

Vorsitzende der Elisabethenfrauen war 1950 Käthe Weller und 1970 Waltraude Schieker.

Die Aufgaben der Elisabethenfrauen veränderten sich im Laufe der Jahre

Liebfrauenkirche Cannstatt

Die Elisabethenfrauen, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr als Verein sondern als Gruppe bezeichnen, übernahmen nun weitere Aufgaben. So beteiligten sie sich beispielsweise an der Bahnhofsmission und an der Schulspeisung. Sie kümmerten sich um die neu hinzugezogenen Familien, insbesondere auch um Flüchtlinge und Heimatvertriebene, und ab den 1960er Jahren auch um die sogenannten „Gastarbeiter“. Eine wichtige Aufgabe bestand in der Vermittlung von Wohnungen.

Ein weiteres Aufgabengebiet der Elisabethenfrauen waren die Pakete, die sie in die DDR schickten. Sie hatten Patenschaften zu zwei Elisabethengruppen in der DDR.

So entwickelte sich der Aufgabenbereich der Elisabethenfrauen immer weiter. Er passte sich der sozialen und politischen Situation an. Lag ihr Aufgabenbereich zunächst in der Sorge für die Bedürftigen, so ging es nun vermehrt auch um die Integration der neu Hinzugezogenen in der Gemeinde.

Die Sorge um die älteren Menschen wird immer wichtiger

Die Sorge um die alten Menschen nahm dann in den folgenden Jahren einen immer größeren Raum ein. Hier in der Großstadt lebten immer mehr ältere Menschen alleine, sie wurden nicht von ihren Familien versorgt. Hier ging es um finanzielle Unterstützung, aber auch um Botengänge, um Ansprache, um Vermittlung von Hilfe.

Ab 1951 gab es auch einen Altenkaffee für über 70-jährige, zu dem die Elisabethenfrauen persönlich einluden. Sie organisierten, backten Kuchen, kochten Kaffee und bemühten sich um Kontakt zu den älteren Menschen. Zu diesem Altenkaffee kamen laut Bericht von 1968 bis zu 90 Personen.

In besagtem Bericht wird auch erstmals erwähnt, dass die älteren „Geburtstagskinder“ von den Elisabethenfrauen besucht wurden. Für diese Besuche konnten auch weitere Gemeindemitglieder, wie etwa Nachbarinnen, gewonnen werden.
Damit begannen also die Elisabethenfrauen in dem Bereich tätig zu werden, der in den letzten Jahren ihren Schwerpunkt bildete: die Geburtstagsbesuche bei älteren Frauen.

Heute machen etwa zehn Frauen bei den Elisabethenfrauen mit

Die Gruppe der Elisabethenfrauen von Liebfrauen, die heute zu den Caritaskonferenzen Deutschland gehören, umfasst aktuell etwa zehn Frauen, die sich regelmäßig im Gemeindesaal treffen. Zu solch einem Treffen im Juni war ich eingeladen. Es gab Kaffee und Kuchen, den eine der Frauen anlässlich ihres Geburtstags gebacken hatte.

Zunächst wurden die Briefumschläge mit den Geburtstagsgrüßen und den Willkommensbriefen verteilt: Manche groß, manche eher klein. In den großen steckt eine Ausgabe des Gemeindeblatts katholisch konkret.

Schwerpunkt waren die Geburtstagsbesuche bei älteren Frauen

Die etwa zehn Frauen, die bei den Elisabethenfrauen aktiv mitmachen, haben sich das gesamte Gemeindegebiet von Liebfrauen aufgeteilt und besuchten bis zum Zusammenschluss der Gesamtkirchengemeinde 2017 die älteren Menschen an ihren Geburtstagen: zum 75. Geburtstag das erste Mal und ab dem 80. Geburtstag dann jedes Jahr. Früher brachten sie ihnen dann auch immer ein kleines Geschenk mit.

Richarda erzählt: „Da haben sich manche richtig gefreut, wenn man zu Besuch kam.“
Auch Magdalena bestätigt: „Wenn man jedes Jahr wieder kommt, dann warten sie schon drauf.“
Edith meldete sich, wo es möglich war, telefonisch an. „Und wenn ich dann kam, dann stand der Kaffee schon auf dem Tisch.“
Wenn sie keine Telefonnummer von den Frauen hatten, dann sind sie oft mehrmals hingegangen um die Frauen zu erreichen. Richarda berichtet, dass sie es meistens vormittags versucht hat, weil die Frauen manchmal nachmittags Besuch zum Kaffee hatten. Aber vormittags kamen dafür die Telefonanrufe.
Aber Elisabeth meint auch, dass lange nicht alle Jubilarinnen sich über einen Besuch freuten: „Das sind eigentlich ganz wenige. Die kannst du an zwei Händen abzählen. Aber da lohnte sich jeder Besuch.“
Und Magdalena erzählt: „Es hat schon Leute gegeben, die gesagt haben: ‚Stellen sie das vor die Tür oder in den Flur.‘“
Waltraud hat sehr unterschiedliches bei den Besuchen erlebt: „Es gab Leute, da hat man das Geschenk an der Haustüre abgegeben, die haben sich bedankt und die Tür wieder zugemacht. Und dann gab es natürlich auch Leute, die einen reingebeten haben, man hat was geredet. Sie haben einem vielleicht was zu trinken angeboten. Und gelegentlich gab es auch mal Kaffee und Kuchen. Aber das war seltener der Fall.“

Seit dem Zusammenschluss zur Gesamtkirchengemeinde und nach Corona gibt es offiziell keine Geburtstagsbesuche mehr

Seit der Gründung der Gesamtkirchengemeinde 2017 wurde die Besuchspraxis in den Gemeinden angeglichen. Und seit der Corona-Pandemie werden offiziell gar keine Geburtstagsbesuche mehr gemacht und fast keine Geschenke mehr überreicht. Jetzt gibt es nur noch Geburtstagsbriefe und zu den runden Geburtstagen eine Tafel Schokolade.

Magda, die damals Gewählte Vorsitzende des Kirchengemeinderats war, hatte sich dagegen ausgesprochen: „Ich befürchtete schon damals, dass hier in Liebfrauen die Älteren wirklich vergrätzt sind, weil es auf einmal nichts mehr zum Geburtstag gibt.“
Nun werden nur noch die Geburtstagsbriefe – manchmal zusammen mit einer Tafel Schokolade – in den Briefkasten geworfen.
Richarda meint: „Man sagt, wir machen die Elisabeth-Besuche. Aber seit Corona machen wir die Post, wir sind die Postler.“

Jetzt wissen die Frauen nicht, wie es weitergehen soll. Ihre Gebiete sind zu groß, sodass sie nicht alle besuchen können. Zudem finden sie es auch unangenehm, bei den Jubilarinnen zu klingeln, wenn sie einfach nur einen Brief von der Gemeinde überreichen und kein Geschenk mehr. Die Tafel Schokolade zu den runden Geburtstagen wird vielfach nicht anerkannt.

Elisabeth macht trotzdem noch Besuche bei Frauen, die sie kennt: „Da geh ich dann auch hin und bring ihnen auch von mir aus ein paar Blumen.“ Aber Magda meint, dass das nicht in Ordnung ist, wenn die Elisabethen-Frauen die Geschenke jetzt selber zahlen.

Zusätzliche Willkommensbriefe für neue Gemeindemitglieder

Seit einiger Zeit haben die Frauen noch zusätzliche Aufgaben in ihren Gebieten übernommen. Neu hinzugezogene Gemeindemitglieder erhalten einen Willkommensbrief mit älteren Exemplaren vom Gemeindeblatt katholisch konkret, um zu zeigen, was so in der Gemeinde los ist. Das Gleiche gilt für diejenigen, die ihren 25-jährigen Geburtstag feiern. Gerade die Willkommensbriefe machen mittlerweile den Großteil der Briefe aus. Denn gerade in den vielen Wohngemeinschaften ziehen immer wieder neue junge Leute ein. Edith erzählt: „Ich hab den Veielbrunnen und da gibt es nur Wohngemeinschaften. Da sind teilweise 37 einzelne Zimmer unter einer Adresse. Da muss ich ständig einen Willkommensbrief reinschmeißen. Und in den Containern an der Hans-Martin-Schleyer-Halle, in denen die Flüchtlinge leben, da gibt’s überhaupt keinen Briefkasten.“

Es ist sehr viel Arbeit für die Frauen und sie wissen noch nicht einmal, ob es irgendeinen Sinn macht. „Man hat keinerlei Rückmeldung, ob sich da irgendwann mal einer bei der Gemeinde gemeldet hat aufgrund dieser Willkommensbriefe“, meint Waltraud.

Die Idee dahinter war das sogenannte Wohnsitz-Apostolat. Das heißt, dass man sich in seinem Wohngebiet um die Gemeindemitglieder kümmert, sie willkommen heißt, sie zu runden Geburtstagen besucht, nach Menschen schaut, die vielleicht krank sind. Aber bis jetzt sind die Bereiche, für die die Frauen zuständig sind, viel zu groß. „Von dem eigentlichen Sinn, der auch für die Elisabethenfrauen passen würde, nämlich füreinander zu sorgen, nacheinander zu gucken, ist eigentlich nichts mehr zu spüren“, meint Magda.

Ideen, wie es weitergehen kann

Die Frauen haben Ideen, was man ändern könnte, wie man es besser machen könnte.

  • Mehr Frauen anwerben, sodass die Gebiete kleiner sind.
  • Die Willkommensbriefe mit der Post verschicken. Ohne das Gemeindeblatt wäre das per Post billiger.
  • Nur die Frauen besuchen, die auch einen Bezug zur Kirchengemeinde haben. Aber wer gehört dazu?
    Vielleicht könnten alle Frauen zum 75. Geburtstag einen Brief bekommen, in dem Besuche angekündigt werden, falls dies gewünscht wird?
  • In die Geburtstagbriefe Flyer der Chöre, für Konzerte und die Termine von den Seniorennachmittagen legen.

Auf meine Frage, ob sie gerne wieder die Geburtstagsbesuche machen würden, herrscht zunächst Schweigen. Dann kristallisiert sich heraus, dass sie gerne bei den Frauen Besuche machen, die sie kennen. So meint Waltraud: „Wenn man keinen Bezug hat, dann finde ich es ein bisschen schwierig zu klingeln und zu sagen: ‚Ich bin von der Kirchengemeinde und will Ihnen zum Geburtstag gratulieren.‘“

Aber Magda erzählt von einer sehr schönen Begegnung: „Ich hab mal eine Nachbarin besucht. Da haben wir das erste Mal miteinander geschwätzt. Sie hatte immer katholisch konkret gelesen und wusste, wer ich war. Das Gespräch war für mich total beglückend.“

Zum Schluss betont Magda nochmals, dass die Frauen im Verein sehr viel Spaß miteinander haben. Das merkt man auch bei Kaffee und Kuchen, dass sie sich gut verstehen. Aber eben auch, dass sie zurzeit frustriert sind in ihrem Engagement bei den Elisabethenfrauen.

Elisabeth Skrzypek

Bildnachweise

Henriette von Seckendorff-Gutend

In der Wiesbadener Straße steht seit einigen Jahren der Neubau der Villa Seckendorff. Was für ein vornehmer Name: Villa Seckendorff! Wer gab der Einrichtung den Namen?

Dieses Alten- und Pflegeheim wurde ursprünglich an anderer Stelle von Henriette von Seckendorff-Gutend als eine Art Krankenhaus gegründet.

Gegründet von einer „Heilerin“

Henriette von Seckendorff war eine recht schillernde Frau. Sie galt als „Heilerin“, die alleine durch Handauflegen und Beten Kranke heilen konnte. Für die vielen kranken Menschen, die teilweise von weither kamen, um von ihr geheilt zu werden, ließ sie 1869 ein Haus auf dem Seelberg errichten, eben die Villa Seckendorff.

Aus einem alten fränkischen Adelsgeschlecht stammend

Sie stammte aus einer adeligen Familie. Sie wurde 1819 in Mittelfranken als Jüngste von acht Geschwistern geboren. Ihre Eltern waren Geschwister; ihre Mutter starb kurz nach ihrer Geburt und ihr Vater starb, als sie zwei Jahre alt war. Zunächst wurde sie zusammen mit ihrer nächst-älteren Schwester nur von einer französischen Erzieherin erzogen. Dem Bruder der Mutter gefiel diese Erziehung nicht, deshalb nahm er die beiden Mädchen bei sich auf. Die beiden Mädchen erhielten in ihren ersten Lebensjahren keine religiöse Erziehung. Aber Henriette entdeckte in der Bibliothek ein Buch mit religiösen Liedern ihres Urgroßvaters, die sie sehr ansprachen.

Als junge Frau zog sie nach Stuttgart, wo sie – nach eigenen schweren Erkrankungen – Gott dienen wollte und barmherzog aktiv werden wollte. So besuchte sie Bewohnerinnen des Bürgerhospitals, las ihnen aus der Bibel vor und betete für sie.

Als ihre Dienerin bei einem Besuch in Bad Herrenalb unter heftigen Zahnschmerzen litt und Henriette diese durch Handauflegen und Beten beseitigen konnte, begründete dies ihren Ruf als „Heilerin“.

Kontakt zu Stuttgarter Pietisten

Henriette hatte intensiven Kontakt mit bekannten Stuttgarter PietistInnen und mit weiteren HeilerInnen. Regelmäßig besuchte sie die Erbauungsstunden bei der Fabrikantengattin Charlotte Reihlen, die maßgeblich an der Gründung des Weidle’schen Töchter-Instituts beteiligt war, der Vorgängereinrichtung des heutigen Mörike-Gymnasiums. Zudem initiierte diese die Gründung des Diakonissenkrankenhauses in Stuttgart.

Bei den pietistischen Treffen bei Charlotte Reihlen lernte Henriette von Seckendorff die Schweizer Heilerin Dorothea Trudel kennen und ging mit ihr für ein Jahr in die Schweiz, um mit ihr zusammen als Heilerin tätig zu sein.

Immer mehr Menschen kommen und wollen von ihr geheilt werden

Zurück in Stuttgart hatte sich ihr Ruf als Heilerin verfestigt und immer mehr Menschen wollten von ihr geheilt werden. Es ereigneten sich immer mehr Heilungen, von denen sie auch bei ihren Hausandachten berichtete, zum Beispiel so:

„Ein krankes, sehr schwaches Kind wurde mir von seinen Eltern übergeben. Dieses sprang mit anderen Kindern herum und spielte mit einem Ball, es wollte recht hoch werfen, da trat durch die zu große Anstrengung das Bein des Armes aus der Achsel und stand ziemlich hoch hervor; weinend kam das Kind zu mir, und wie erschrak ich, als ich sah, was geschehen war! In der Bestürzung fehlte mir die nötige Ruhe, ich wollte zum Wundarzt schicken, um den Arm wieder einrichten zu lassen, da sagte das Kind zu mir: Willst du nicht lieber auflegen und beten? Natürlich tat ich es. Nicht 3 Minuten dauerte es, und das ausgewichene Bein trat in seine Stelle, es war eingerichtet, und das liebe Kind konnte den Arm sehr bald wieder ganz gebrauchen. Darüber sprach ich nun meine Verwunderung aus, denn diese rasche Heilung war mir doch sehr auffallend; das Kind aber strafte mich und sagte: Was wunderst du dich denn? Der Heiland ist ja kein Lügner! Noch heute klingen mir diese Worte des Kindes in den Ohren, und nie mehr werde ich mich über die Heilungen wundern; denn es stammt nur aus dem Unglauben.“

Henriette von Seckendorff lehnte die klassische Medizin nicht ab, aber sie glaubte, dass das Bereuen der Sünden und eine gewisse Demut erfolgreich zur Heilung führen konnten.

1869 Bau der Villa Seckendorff auf dem Seelberg

Obwohl die Kirche sich sehr kritisch über ihr Heilen äußerte, kamen immer mehr Menschen zu ihr, die sie zeitweise auch in ihrer Wohnung unterbrachte. Als es aber immer mehr Menschen wurden, die von ihr geheilt werden wollten, beschloss sie 1869, für die Kranken ein Haus auf dem Seelberg in Cannstatt bauen zu lassen, eben die Villa Seckendorff. Sie wurde von Freunden und Bekannten dabei finanziell unterstützt. Die Menschen kamen teilweise von weit her, um von ihr geheilt zu werden. Gerade aus dem Baltikum kamen einige oft sehr vermögende Frauen, die ihr Haus anschließend auch finanziell unterstützten.

Nicht nur Kranke fühlten sich von Henriette von Seckendorff angesprochen. Viele Menschen aus Cannstatt, Stuttgart und Umgebung kamen, um ihre Andachten am Sonntag zu hören. Da das Interesse so groß war, veröffentlichte sie ihre Andachten in einem Buch, das immer wieder neu aufgelegt wurde.

Anna Schlichter führte nach ihrem Tod das Werk weiter

Henriette von Seckendorff starb 1878 und wurde in Stuttgart auf dem Fangelsbachfriedhof beerdigt.

Unter ihrer Nachfolgerin Anna Schlichter, die selber von Henriette von Seckendorff geheilt worden war, wurde die Villa Seckendorff weiter ausgebaut. Sie wurde um ein Stockwerk erhöht, außerdem wurden zwei weitere Wohngebäude und eine Kapelle zusätzlich errichtet. Nach Anna Schlichters Tod 1904 übernahm der Pfarrer Heinrich Petri die Leitung bis 1940. Dabei stand das Haus seit 1909 unter der Trägerschaft der Pilgermission St.Chrischona bei Basel.

Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde 1950 ein Neubau an heutiger Stelle errichtet, am Cannstatter Kurpark. Das ursprüngliche Grundstück auf dem Seelberg wurde an die AEG verkauft, die die benachbarte Esslinger Maschinenfabrik/Decker übernommen hatte. Dafür wurde das Grundstück Ecke Wiesbadener/Freiligrathstraße erworben, das bis dahin den Terrot-Erben gehört hatte.

Seit 2007 ist die Bruderhausdiakonie Träger des Hauses, die das Haus bis 2011 vollkommen neu bauen ließ.

Elisabeth Skrzypek

Links

Literatur

  • Claudia Weinschenk und Olaf Schulze: Henriette von Seckendorff. Gebetsheilerin, Gründerin der Villa Seckendorff in Cannstatt, in: in: Pro Alt-Cannstatt (Hg.): „Und die Frauen?“ Cannstatter Frauengeschichte(n) aus zehn Jahrhunderten, Ludwigsburg 2021, S. 86 – 91

Bildnachweise

  • Beide Bilder sind privat

„Menschenrechte sollten auch innerhalb der Katholischen Kirche gelten!“ – Interview mit Birgit Kälberer

Mit Begeisterung singe ich – zusammen mit Birgit –  bei Chorisma Cannstatt in der katholischen Kirche Liebfrauen. Aber wie die Katholische Kirche insgesamt sich im Moment darstellt, das lässt einen doch manchmal verzweifeln. Skandale beherrschen das Bild, mangelhafte Aufklärung bei Missbrauchsfällen. Die Katholische Kirche mit ihrer Männerwelt, ihren undemokratischen Strukturen, mit dem Pflichtzölibat und ihrer verklemmten Sexualmoral wirkt manchmal sehr lebensfremd.

Aber vor Ort gibt es in manchen Kirchen ein reges Gemeindeleben mit offenen, aufgeklärten und reformwilligen Menschen. So wie Birgit Kälberer.

Birgit Kälberer bei Chorisma Cannstatt

Birgit ist Sprecherin von pro concilio, der größten Reformgruppe in der Diözese Rottenburg/Stuttgart, die sich für umfassende Reformen in der Katholischen Kirche engagiert.

Zum Interview hat sie mich in ihren wunderbaren naturnahen Garten eingeladen, wo man die Züge über das Viadukt fahren sehen kann.

Lehrerin für Theologie und Kunst

Schon von Berufs wegen beschäftigt sich Birgit mit der Religion. Sie hat Theologie und Kunst auf Lehramt für Grund- und Hauptschule studiert. Zunächst war sie bei der Kirche angestellt und arbeitete als Religionslehrerin an mehreren Schulen. Vor ein paar Jahre hat sie dann den Arbeitgeber gewechselt und arbeitet momentan als Grundschullehrerin für das Land Baden-Württemberg – an der Pragschule. Da fallen neben Religion dann auch die ganzen anderen Fächer an, und auch ihre geliebte Kunst. Diese Vielfalt ist einer der Gründe, warum sie gewechselt hat.

Der andere Grund: „Ich bin dadurch frei. Ich muss bei dem, was ich sage, nicht mehr Rücksicht auf meinen Arbeitgeber Kirche nehmen.“

Jesus und die Samariterin am Brunnen
(Egli-Figuren von Birgit)

Birgit sagt, dass die Vorbereitung für den Religionsunterricht oft recht aufwändig ist. „Beim Religionsunterricht gibt es mehr Gesprächsbedarf, da ist mehr Geschichtenerzählen. Dafür habe ich oft meine Egli-Figuren dabei. Sie sind meine Kombination aus Religion und Kunst. Ich hab vor allem viele Kinder dabei. Beim Fischzug ist zum Beispiel immer ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen dabei. Wenn ich die Krippe aufbaue und anfange so ein bisschen auszuschmücken, dann ist da ein kleines Mädchen, das sagt: ‚Papa wir haben da doch noch ein Plätzchen im Stall‘. Kinder denken ja manchmal so ein bisschen anders als Erwachsene.“

In diesem Schuljahr gibt Birgit das erste Mal keinen Religionsunterricht, stattdessen unterrichtet sie die Kinder, die vom Religionsunterricht abgemeldet sind. Das sind vorwiegend muslimische Kinder, ein paar christliche und ein paar Kinder von überzeugten Atheisten.

Seit dem Kirchentag 2010 in München bei der Reformbewegung

Birgit kam 2010 zur Reformbewegung. „In dem Jahr hatten wir wieder unglaublich viele Skandale auf Kirchenseite: Die erste Missbrauchsstudie kam heraus und die schwarzen Kassen im Vatikan wurden entdeckt. In dem Jahr dachte ich echt, ich kann meinen Beruf als Religionslehrerin nicht mehr ausüben. Ich kann nicht mehr für diese Kirche, die so unglaubwürdig ist, arbeiten. Als Religionslehrerin bin ich Außenvertreterin für die Kirche. Ich bin diejenige, die mit den Eltern Diskussionen führen muss. Diesen Spagat zwischen dem, was ich denke, und dem, was ich von Kirchenseite sagen müsste, wollte ich nicht mehr mitmachen. In dem Jahr war in München der Ökumenische Kirchentag. Es war das erste Mal, dass ich wieder hingehen konnte, nachdem die Kinder etwas größer waren. Damals hab ich gesagt: ‚Lieber Gott, wenn Du willst, dass ich diesen Beruf in Deinem Namen weiter ausführe, dann schick mir ein Zeichen.‘ Das ist dort passiert. Ich bin über die Gruppe Wir sind Kirche gestolpert und ich habe Frau Dr. Ida Raming kennengelernt, eine der entgegen dem Kirchenrecht geweihten Priesterinnen und Bischöfinnen. Sie wohnt heute im Asemwald und ist mittlerweile eine Freundin von mir.“

Seit 2010 arbeitet Birgit Kälberer mit bei Wir sind Kirche und später dann bei pro concilio, der Reformbewegung, die eng mit Wir sind Kirche verknüpft ist.

Diese Kirchenvolksbewegung wurde 1995 in Österreich gegründet und verbreitete sich über die ganze Welt. „Als die angefangen haben aktiv zu werden, war ich noch mit Referendariat, Heiraten und Kinderkriegen beschäftigt. Aber meine Mutter stand schon damals da und hat Unterschriften gesammelt. Damals wurde die Herdplatte warm gemacht. Es hat lange gedauert, aber mittlerweile ist es schon am Kochen. Und die Kirche liefert den Sprit!“, meint Birgit lachend.

Die Menschen sind dran geblieben und haben viele sehr dicke Bretter gebohrt. Für viele TheologInnen und ReligionslehrerInnen ist diese Reformbewegung – ebenso wie für Birgit Kälberer – eine absolute Notwendigkeit, um ihren Beruf weiter ausüben zu können.

Die Reformbewegung ist mitten in der Kirche angekommen

Und es hat sich was getan. „Allein, dass wir auf dem Katholikentag unseren Stand in diesem Jahr an prominenter Stelle aufbauen konnten, ist ein Zeichen der Wertschätzung unserer ‚Oppositionsarbeit‘. So war auch unser Podium zusammen mit dem Bund Neudeutschland zum Thema Auftreten oder Austreten im offiziellen Programm zu finden.“

Birgit auf dem Stuttgarter Kirchentag (mit Dr. Albrecht Storz und Bischof Gebhard Fürst)

„Ich hatte den Eindruck, die ganzen Reformgruppen waren im Herzen von diesem Katholikentag angekommen. Und die ganzen Themen von 1995 sind jetzt alle auf dem Synodalen Weg.

Auch die Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien wollen Teilhabe, die Frauen wollen Gleichberechtigung. Die Blockierer dieser Reformbewegung sitzen nicht in Lateinamerika, sie sitzen in Europa, in diesem kleinen Örtchen namens Vatikan.“

Birgit macht die Hauptforderungen von pro concilio klar: „Menschenrechte sollten auch innerhalb der Katholischen Kirche gelten! Gleichberechtigung ist ein Menschenrecht! Die Katholische Kirche pocht darauf, dass die Menschenrechte weltweit eingehalten werden, aber sie kehrt nicht vor der eigenen Tür! Solange sie das nicht macht, ist es mit ihrer Glaubwürdigkeit schlecht bestellt. Eine Kirche, die nicht mehr glaubwürdig ist, ist ruiniert, sie ist am Abgrund. Mein Kampf ist für eine solche Kirche, die Menschenrechte achtet, und nicht gegen die Kirche.“

Das Recht auf die freie Wahl des Familienstandes ist ein Menschenrecht

Zu den Menschenrechten gehört auch die freie Wahl des Familienstandes. Pro concilio ist gegen das Pflichtzölibat. „Im Titusbrief steht, dass, wer zum Vorsteher der Gemeinde berufen wird, ein rechtschaffener, ehrlicher und verantwortungsbewusster Mann sein soll. Aber, was immer ausgelassen wird: Vorsteher soll nur werden, wer auch seiner eigenen Familie gut vorsteht. Wer also ein guter Papa ist. Den Satz lassen sie aus.“

Auf dem Katholikentag war gegenüber dem Stand von Pro concilio der Stand der vom Zölibat betroffenen Menschen. Also Menschen, die in Beziehungen leben oder leben wollen, denen das aber durch das Zölibat verwehrt wird. „Wieviel Elend durch das Zölibat entsteht! Wie unnötig dieses Elend eigentlich ist, und so total verlogen!“

Zulassung der Frauen zu Weiheämtern

Eine Forderung, die Birgit Kälberer besonders am Herzen liegt, ist die Gleichberechtigung der Geschlechter und damit auch die Zulassung der Frauen zu Weiheämtern. „Manche behaupten, Frauen dürften nicht geweiht werden, weil auch Jesus nur Männer zu Priestern geweiht hat. Aber wer die Bibel liest, stellt fest, dass Jesus überhaupt niemanden zum Priester geweiht hat. Manche, die da nicht so genau hinschauen, denen kann man manchmal viel erzählen.“

Ein weiterer Punkt ist die Gewaltenteilung, die ja auch in unserer Verfassung verankert ist. In der Kirche ist der Bischof manchmal der Dienstherr, der Seelsorger und auch noch der Richter, alles in einer Person. Das führt natürlich zu Konflikten. Wie man das ja auch bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle sieht.

„Dann heißt es: Ich gebe dir als Seelsorger noch eine zweite Chance. Ein Neuanfang, woanders. Wenn der Bischof nur Arbeitgeber wäre, hätte er ganz anders reagiert.“

Für eine stärkere Demokratisierung der Katholischen Kirche

Die katholischen Pfarrer haben eine enorme Machtposition in der Gemeinde. In der evangelischen Kirche, wo es deutlich weniger Missbrauchsfälle gab, hat der Pfarrer, die Pfarrerin diese Position nicht. Das wird auch im Gottesdienst deutlich, wo der Pfarrer, die Pfarrerin in der Bank sitzt, aus der Gemeinde heraus kommt. Er wird von der Gemeinde ausgewählt und kann auch von dieser wieder abgewählt werden. In der katholischen Kirche werden die Pfarrer und insbesondere auch die Bischöfe von oben bestimmt.

Eine Spur von Demokratie gibt es bei der Gemeinderatswahl. Wobei der Gemeinderat kein wirkliches Mitspracherecht hat, sondern nur ein Beratungsgremium ist. „Manche, die sich engagieren, können durchaus großen Einfluss in den Gemeinden haben. Aber wenn es Spitz auf Knopf kommt, kann man nicht gegen den Pfarrer entscheiden. Auch wenn der Pfarrer selber gar nicht gewählt wurde.“

Diese überhöhte, teilweise sakralisierte Stellung der Pfarrer hat auch dazu geführt, dass den Kindern, die ihren Eltern von Missbrauch berichtet haben, nicht geglaubt wurde. „Das macht doch unser Pfarrer net“. Durch die verstärkte Öffentlichkeit wird den Kindern heute eher geglaubt, werden diese Missbrauchsfälle heute eher der Polizei gemeldet und auch von Staats wegen verfolgt.

Sexueller Missbrauch ist auch Machtmissbrauch und spiritueller Missbrauch

„Die Täter suchen sich ihre Missbrauchsopfer oft entsprechend aus. Neben den Kindern sind ja auch viele sehr junge Nonnen betroffen. In einer Dokumentation von Arte berichtete eine Nonne: Der Priester habe sich ihr genähert und gesagt „Ich will dir die Liebe Christi zeigen“. Ich mein: wir sind selbstbewusste Frauen, wir würden dem was von Liebe Christi flöten und ihn auslachen oder sonst was. Die Täter suchen sich kleine blauäugige fromme Mädels aus“. Oder eben Kinder.

Birgit erklärt: „Missbrauch in der Kirche ist nicht nur ein sexueller, sondern auch ein Machtmissbrauch. Und beim Pfarrer kommt zusätzlich noch ein spiritueller Missbrauch hinzu. Diesen missbrauchten Menschen wird auch der Zugang zu ihrem Glauben, zu ihrem Gott und zu ihrem eigenen Gespür zerstört.“

Birgit auf dem Katholikentag 2022

Die Reformbewegung Pro concilio hat sich ein Weltkonzil zum Ziel gesetzt, auf dem die notwendigen Reformen der Katholischen Kirche diskutiert und umgesetzt werden sollen. „Dies Konzil sehen wir natürlich paritätisch besetzt, so wie wir das jetzt bei dem Synodalen Weg sehen. Nicht so ein reiner Kardinals- und Bischofs-Schauplatz mit Männern im Alter von 70 aufwärts.“

Um dies Ziel irgendwann zu erreichen, bedarf es einiger Vorarbeit. Im März hat die Bewegung ein Konzil online veranstaltet. Für den 24. September 2022 planen sie eine große Präsenzveranstaltung Konzil von unten in der Stadthalle Rottenburg, wobei der Abschlussgottesdienst im Dom stattfinden soll.

Für ein Weltkonzil, auf dem alle mitsprechen können

„Das Ziel ist ein Weltkonzil und wir üben im Kleinen in unserer Diözese Rottenburg, wie wir uns das mit relativ demokratisch gewählten Vertretern vorstellen können, wie so etwas ablaufen könnte. Wir haben sämtliche Seelsorgeeinheiten, Gemeinden angeschrieben, Delegierte zu bestimmen. Die Gemeinden können etwa die Delegierten über den Gemeinderat bestimmen. Aber auch Orden und Verbände wurden angeschrieben. Wir haben bereits an die 400 Anmeldungen.

Dort wird dann feierlich das Rottenburger Manifest unterzeichnet und verabschiedet. Das ist dann das, was die Menschen aus der Diözese wirklich wollen. So etwas gibt es momentan weltweit nicht. Da sind wir gerade die einzigen, die so etwas angeleiert haben.“

Die ganze Arbeit der Reformbewegung läuft ehrenamtlich ab, finanziert wird das über Spendengelder.

Maria 2.0 fordert Zulassung von Frauen zu allen Ämtern

Maria 2.0 Ikone (Lisa Kötter)

Auch bei der Initiative Maria 2.0 engagiert sich Birgit. Diese Bewegung ist mit Pro concilio und mit Wir sind Kirche eng verbunden. Maria 2.0 begann 2019 mit einem Streik und Aktionen der Frauen in den Kirchen, in denen die Zulassung der Frauen zu allen Ämtern in der Katholischen Kirche gefordert wurde, die Aufhebung des Pflichtzölibats und eine Aufklärung der Missbrauchsfälle. 2021 schlugen die Frauen überall in Deutschland in Anlehnung an Luther sieben Thesen an die Türen katholischer Kirchen.

„In vielen Punkten decken sich die Forderungen von Maria 2.0 auch mit denen von pro concilio und Wir sind Kirche. Sie sind nur etwas lauter und radikaler. Manche, die ihnen diese Lautstärke vorwerfen, die muss man fragen: Hat man sie gehört, als sie leise gemotzt haben?“
„Ich finds klasse, dass an sämtlichen Kirchen unserer Seelsorgeeinheit die Thesen an den Türen hingen. Ich selber hab sie am Dom St. Eberhard angeschlagen.“

Als Reaktion auf diese Reformbewegungen gerade auch in Deutschland hat Papst Franziskus gemeint, dass eine Reformation aus Deutschland kommend vollkommen reiche. Wer Frauen im Priesteramt wolle, der solle doch zur Evangelischen Kirche wechseln. „Das zeigt seine Unfähigkeit die Katholische Kirche zu reformieren. Und seine Unfähigkeit, das Erbe der Reformation anzuerkennen. Luther wollte nicht die Kirche spalten, er wollte sie verbessern. Ein großer Teil seiner Forderungen wurde ja später auch übernommen. Obwohl: durchgesetzt haben sie sich nicht alle.
Als ich im Heiligen Jahr durch die eine bestimmte Tür des Petersdoms gelaufen bin, hab ich mich schon sehr gewundert, dass meine Sünden dadurch vergeben wurden. Ich hab nichts gespürt, aber ich hab ein Zertifikat bekommen. Dass es noch solche Art von Ablass gibt.“

Die Katholische Kirche ist Birgits Heimat

Blumenteppich von Liebfrauen

Birgit besucht gerne Gottesdienste der evangelischen Kirche, auch wenn ihr die Farbenfreudigkeit der katholischen Kirche mehr zusagt. „Unsere Kirche kann einfach Ritual. Prozessionen, diese Farben. Die Katholische Kirche hat diese Ganzheitlichkeit. Das ist meine Heimat. Auch wenn mir die Strukturen in der evangelischen Kirche besser gefallen, ist doch mein Herz ganzheitlich und freut sich an Farben und zum Beispiel an einem Blumenteppich an Fronleichnam.“

Und wenn der Papst nun sagt, dass die Reformwilligen doch in die Evangelische Kirche gehen sollen, dann fühlt sich Birgit fast aus ihrer Heimatkirche vertrieben. „Ob ich in der Kirche bleibe, ist für mich noch offen, noch gebe ich dem Synodalen Weg eine Chance, bin aber vom letzten Kommentar aus dem Vatikan entsprechend pessimistisch gestimmt.“

Für mehr Offenheit – auch gegenüber der protestantischen Kirche

Zu einer verstärkten Ökumene gehört für sie auch die Zulassung der Protestanten zum Abendmahl. „Können wir uns da nicht ein bisschen lockerer machen? Ist der Ausschluss vom Abendmahl wirklich damit zu rechtfertigen, dass jemand nicht aufs i-Tüpfele genau glaubt? Katholisch heißt eigentlich: allumfassend. Wenn ich aber die verschiedensten Gruppen vom Abendmahl ausschließe, dann verabschiede ich mich nicht nur von der Volkskirche, sondern auch von katholisch. Denn katholisch bedeutet eigentlich: Es gibt eine bunte Vielfalt, auch Zweifler haben ihren Platz, genauso wie solche, die alles wörtlich glauben. Auch ich möchte mit meinen Zweifeln ernst genommen werden.“

Birgit hat sich früher in ihrer Gemeinde sehr engagiert, das macht sie heute nicht mehr. Ihr Engagement gilt der Reformbewegung.

Nur in den Chor Chorisma Cannstatt kommt sie sehr gerne. „Das ist für mich Meditation. Bei dem Lied Still kriege ich Gänsehaut.“

Birgit bei Chorisma Cannstatt (Tom Wilk)

Bildnachweise

Links

Helene Möhler: die katholische Theologin aus Cannstatt

Von Helene Möhler erfuhr ich von einer älteren Dame aus der Liebfrauen-Gemeinde, die voller Begeisterung erzählte: „Das war damals umwerfend: die Helene geht nach Tübingen um Theologie zu studieren!“
Helene Möhler war eine der ersten Frauen in Deutschland, die Katholische Theologie studierte. Wie kam sie dazu?

In der Familie der Möhlers gab es viele Theologen

Helene Möhler wurde am 20. März 1925 in Stuttgart geboren. Ihre Familie wohnte in der Vorsteigstraße 10 im Stuttgarter Westen. Ab 1927 findet man sie laut Adressbuch in Cannstatt in der Eisenbahnstraße 37.

Eisenbahnstraße 37

Ihr Vater Eugen Möhler war Oberpostschaffner, so bezeichnete man damals einen Geldbriefträger. Ihre Mutter Helene, eine geborene Abel, war gelernte Schneiderin. Sie kamen aus benachbarten Dörfern im Gebiet zwischen Jagst und Kocher.

In der Familie der Möhlers gab es viele Ordensfrauen und Ordensmänner, auch einige Theologen. Ein berühmter Vorfahre war zum Beispiel Johann Adam Möhler, der im frühen 19. Jahrhundert die sogenannte Tübinger Schule mitbegründete. Diese auf eine ökumenische Weite geöffnete katholische „Schule“ führte die Methoden der Geschichtswissenschaften in die Theologie und Forschung ein. Helene hat sich selber viel mit ihrem Vorfahren Johann Adam Möhler beschäftigt. Die entsprechende offene und eher sinnenfrohe Katholizität, die er lebte, war auch Helenes Heimat.

Der von Helene geliebte ältere Bruder Eugen war bereits 1921 auf die Welt gekommen und wurde seit 1943 im Krieg vermisst. 1925 wurde dann Helene geboren und 1930 ihre jüngere Schwester Thea (Maria Theresia). Während Thea wie ihre Mutter den Beruf der Schneiderin erlernte, war Helene von Beginn an die Intellektuelle in der Familie.

Prägung durch die Liebfrauengemeinde

Die Familie gehörte zur Liebfrauengemeinde, wo seit 1935 Alois Rölli als Vikar und Kaplan für die Jugend zuständig war und Helene sicherlich beeinflusst hat. Von 1939 bis 1944 war aber auch Alfons Auer, der spätere Moraltheologe, Vikar in der Liebfrauengemeinde. Er hat Helene geprägt und auch dazu beigetragen, dass sie Theologie studieren wollte. Ihm begegnete Helene beim Studium in Tübingen wieder, wo er als Studentenpfarrer die Gruppe der Theologiestudentinnen unterstützte.

Helene besuchte zunächst hier in Cannstatt die Oberschule für Mädchen, die sich damals in der heutigen Schillerschule befand und wo sie 1943 ihr Abitur ablegte. Die Oberschule war die Vorgängerschule des heutigen Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums.
Anschließend wurde sie als Flakhelferin eingezogen, wo sie sich eine Verletzung am Auge zuzog, die sie ihr Leben lang beeinträchtigte.

Für das angestrebte Theologiestudium benötigte Helene auch Griechischkenntnisse, eine Sprache, die an der Oberschule für Mädchen nicht gelehrt wurde. Vielleicht hat Alfons Auer ihr Unterricht gegeben, sodass sie dann in Tübingen eine entsprechende Prüfung ablegen konnte.

Theologiestudium in Tübingen

1945 begann sie dann endlich ihr Studium der Katholischen Theologie an der Universität in Tübingen. Erstmals studierte das nun eine ganze Gruppe von Frauen.

Die erste Frau in Deutschland, die 1929 in Tübingen in Katholischer Theologie ihr Vollexamen abgelegt hatte, war Franziska (Fanny) Werfer. Sie musste ihre Prüfung noch extra beim Bistum beantragen. Für die Prüfung wurde sie dann in einen abgesonderten Raum gesetzt, wo ihr die Prüfungsfragen durch die Tür mitgeteilt wurden. Vielleicht um die männlichen Theologiestudenten nicht zu verwirren?
Franziska Werfer arbeitete nach ihrem Studium als Religionslehrerin an Stuttgarter Mädchenschulen, wo Helene sie wahrscheinlich kennengelernt hat.
An der Universität Tübingen gibt es aktuell ein Fanny-Werfer-Programm zur Förderung von Frauen in der Katholisch-Theologischen Fakultät.

Zwischen 1930 und 1953 legten in Tübingen, der einzigen deutschen Universität, an welcher ein Frauenstudium in Katholischer Theologie überhaupt möglich war, insgesamt nur 24 Frauen das Diplom ab. Damit waren sie die Wegbereiterinnen für die Katholische Laientheologie.

1954 promovierten die beiden ersten Frauen in Katholischer Theologie, das waren Elisabeth Gössmann und Uta Ranke-Heinemann. Aber die Frauen blieben dennoch in der absoluten Minderheit. 1955/56 studierten in ganz Deutschland nur 20 Frauen Katholische Theologie. Sie wurden von kirchlicher Seite kaum gefördert und hatten nach ihrem Studium zumeist schlechte Berufsaussichten.

Helene Möhler war eine eifrige Studentin, ihre Schwerpunktfächer waren Kirchengeschichte und Moraltheologie. Nach ihrem Abschluss 1949 erhielt sie vom Bischof in Rottenburg die Missio Canonica, die Erlaubnis, Religionsunterricht zu erteilen.

Ausbildung der Laienkatechetinnen im Sonnenhaus in Beuron

Helene Möhler in Beuron

Zunächst arbeitete sie an verschiedenen Schulen in Ludwigsburg als Religionslehrerin. Dann wurde sie 1952 an die Bischöfliche Laienkatechetische Arbeitsstelle der Diözese Rottenburg berufen: Sie sollte Frauen als Laienkatechetinnen ausbilden.

Laienkatechetinnen sind Frauen, die im Auftrag einer Gemeinde in Schulen und auch in den Gemeinden die Lehraufgabe der Kirche erfüllen. Es ging um Wissensvermittlung, aber auch um Glaubensverkündigung. Die Frauen arbeiteten in den Schulen meist nur in den unteren Klassen und in den Gemeinden übernahmen sie oft die weiblichen (!) Jugendgruppen – oder die Hausbesuche.

Die Katechetinnenausbildung war zunächst vom Katholischen Deutschen Frauenbund KDFB organisiert worden, der 1903 auf Reichsebene und 1917 in der Diözese Rottenburg gegründet worden war. Um der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, musste sich der Frauenbund ab 1933 alleine auf die seelsorgerische Arbeit beschränken. Er durfte sich nicht mehr gesellschaftlich oder gar politisch engagieren. Daher verstärkte er die Ausbildung der Frauen, die in den Gemeinden seelsorgerische Aufgaben übernehmen wollten, eben die der Laienkatechetinnen.

Sonnenhaus in Beuron

Das Sonnenhaus in Beuron, das im Besitz des KDFB war, wurde nun für die laienkatechetische Ausbildung genutzt. Ab 1937 leitete Rose Feifel diese Ausbildungsstätte, ein Jahr später zusammen mit Magdalene Prato. Diese beiden studierten Theologinnen bauten die laienkatechetische Ausbildung in der Diözese Rottenburg auf. Um sie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen, übernahm später die Diözese selber die Leitung.
Jeweils zwischen 20 und 50 Frauen nahmen an den Kursen teil, die zunächst nur wenige Wochen dauerten.

1952 übernahm nun Helene Möhler die Stelle von Rose Feifel und leitete zusammen mit Magdalene Prato diese Ausbildungsstätte für Laienkatechetinnen in Beuron.

Laienkatechetische Ausbildung wird zu einer Berufsausbildung ausgebaut

Bereits 1949 hatte Magdalene Prato vorgeschlagen, die Ausbildung zu einer echten Berufsausbildung für die Frauen auszubauen. Ab 1950 boten sie eine 15-monatige Ausbildung mit einem zwei-monatigen Praktikum in den Schulen der Gemeinde an. Später wurde die Ausbildung auf drei Jahre verlängert und setzte die Mittlere Reife voraus. Nach dem verpflichtenden praktischen Jahr gab es eine abschließende Prüfung.

Kloster Beuron

Als LehrerInnen arbeiteten dort neben Magdalene Prato und Helene Möhler insbesondere Mönche aus dem benachbarten Kloster Beuron.
Helene Möhler unterrichtete Moraltheologie und Kirchengeschichte. Daneben leitete sie Arbeitsgemeinschaften über kirchliches Zeitgeschehen, Zeitungskunde und Jugendarbeit. Sie war politisch sehr interessiert.

Auf Helene Möhlers Vorschlag wurden auch Studienreisen in die Ausbildung integriert, die sie selber organisierte und leitete. Es ging nach Frankreich, Italien, Griechenland, Russland, die Türkei und auch nach Israel. Auch privat machte sie sehr viele Bildungsreisen, die sie zum Beispiel auch an die Wirkungsstätten von Paulus führten.
Von 1950 bis zur Schließung der Ausbildungsstätte 1973 wurden 217 Frauen in Beuron ausgebildet. Magdalene Prato und Helene Möhler bemühten sich, diese Frauen nach ihrer Ausbildung in die Gemeinden der Diözese zu vermitteln.
Die Bischöfliche Laienkatechetische Ausbildung in Beuron war Anfang der 1960er Jahre die letzte derartige Ausbildungsstätte in Deutschland. Die anderen waren alle bereits geschlossen worden. 1973 wurde nun auch Beuron geschlossen. Die Ausbildung der Gemeindereferentinnen kam an die Religionspädagogische Fachhochschule in Freiburg.

Helene Möhler wechselte nach der Schließung nach Karlsruhe, wo sie bis zu ihrem Ruhestand 1988 am Städtischen Krankenhaus als Krankenhausseelsorgerin arbeitete. Für Karlsruhe sprach sicherlich die Nähe zu Frankreich, zum Elsass. Helene liebte gutes Essen und guten Wein und reiste sehr gerne nach Frankreich.

Engagement im Heliandbund

Bereits während ihrer Studienzeit hatte Helene Möhler Kontakt zum Heliandbund, einer katholischen Jugendorganisation, die 1926 für Mädchen aus gebildeten Schichten gegründet worden war.
Als nach dem Krieg in Cannstatt eine Heliandgruppe gegründet wurde, lud diese sie als Referentin ein. Eine Theologin aus ihrer eigenen Gemeinde! Eine Frau erinnert sich: „Dabei ist mir unvergesslich, dass sie uns lebhaft und eindringlich ans Herz legte, täglich Zeitung zu lesen, um uns eine Meinung zum Zeitgeschehen bilden zu können.“ Das hatte den jungen Frauen, obwohl sie in der Oberstufe waren, wohl noch niemand empfohlen!

Von 1954 bis 1958 war Helene Möhler Bundesführerin des Heliand-Bundes. Sie organisierte Kongresse und Konferenzen. Ab 1962 war sie Beauftragte für den Hilfsdienst des Heliand-Bundes, der in der Anfangszeit viele Pakete an hilfsbedürftige Familien in der DDR verschickte.

Konservativ im Glauben

Ich hatte die Gelegenheit, mit ihrem Neffen, dem Philosophen Thomas Gutknecht zu sprechen, der eine sehr enge Bindung zu seiner Patentante hatte. Auf meine Frage, ob Helene Möhler eine Feministin gewesen sei, meinte er, dass sie sicherlich sehr viel für die Frauen in der katholischen Kirche bewirkt hat. Die Position der Frauen wollte sie stärken, aber er glaubt nicht, dass sie bei Maria 2.0 mitgemacht hätte. Sie sah die Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Und das Priesteramt durfte in ihren Augen gerne den Männern vorbehalten bleiben.

Sie war in vielem – im besten Sinn – konservativ, auch in ihrem Glauben. So war sie begeistert vom byzantinischen Ritus der orthodoxen Ostkirche.

Helene hat nie geheiratet, vielleicht weil es nach dem Krieg wenige Männer gab. Vielleicht hat sie auch ganz bewusst diese zölibatäre Lebensweise gewählt, vielleicht war sie auch einfach wählerisch in puncto Männer.

Einsatz für die Anerkennung von Hildegard von Bingen als Kirchenlehrerin

Helene Möhler interessierte sich für große Frauengestalten der katholischen Kirche. Zum Beispiel für die französische Schriftstellerin und Mystikerin des 20. Jahrhunderts Madeleine Delbrêl und für die jüdische Philosophin und Frauenrechtlerin Edith Stein, die sich 1922 katholisch taufen ließ, in einen Orden eintrat und im KZ in Auschwitz umgebracht wurde.

Insbesondere interessierte sich Helene Möhler für Hildegard von Bingen. 1979 beantragte sie im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauenverbände, Hildegard von Bingen als Kirchenlehrerin anzuerkennen. Kardinal Höffner, der Adressat des Schreibens, war beeindruckt von der Beweisführung und leitete das Schreiben an den Papst weiter. Aber erst 2012 wurde Hildegard von Bingen dann tatsächlich als Kirchenlehrerin anerkannt.
Den Erfolg ihres Einsatzes für Hildegard von Bingen hat Helene noch erlebt.
Helene Möhler ging im Alter in ein Wohnstift und reduzierte sich immer mehr auf das Wesentliche. Sie verschenkte ihre Bücher (bis auf die Wichtigsten), ihre CDs, ihre Ikonensammlung.

Sie starb am 30. Mai 2013 in Karlsruhe. Bestattet wurde sie auf dem Hauptfriedhof in Cannstatt im Familiengrab ihrer Eltern.

Literatur

  • Pithan, Annebelle (Hg.): Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1997, darin S. 423 f.
  • Ulrike Altherr: Sachwalterinnen der Vormoderne oder Förderinnen der Mündigkeit von Frauen? Katholische Frauenorganisationen der Diözese Rottenburg-Stuttgart vom Kriegsende bis zur Würzburger Synode, Frankfurt 2000
  • Maria Glaser-Fürst: Franziska Werfer, Weißenhorn 2001

Links

Bildnachweise

Ich danke Thomas Gutknecht, dem Neffen von Helene Möhler, für das offene Gespräch und die großzügige Unterstützung bei der Recherche über seine Patentante Helene Möhler.

„Meine Liebe zu Stephanus ist immer noch lebendig“ – Interview mit Ilse Junkermann

Ilse Junkermann 1988
(Foto privat)

Während ich als junge Frau mit meiner Familie auf dem Muckensturm wohnte, erzählten mir meine Freundinnen viel über ihre Pfarrerin in der Stephanuskirche: Ilse Junkermann. Diese begeisterten Erzählungen von einer sehr emanzipierten Pfarrerin waren mir im Gedächtnis geblieben, als ich 2009 hörte, dass genau diese Ilse Junkermann Landesbischöfin von Mitteldeutschland wurde. Was für eine Karriere!

Ich habe mich sehr gefreut, als Ilse Junkermann sich zu einem Telefon-Interview für den Blog Cannstatter Frauengeschichten bereit erklärte.

In ihrer Jugend in Weikersheim waren Pfarrerinnen selbstverständlich

Ilse Junkermann wurde 1957 in Dörzbach im Jagsttal geboren. Sie kommt aus einer bildungsfernen, kleinbäuerlichen Familie und hat dafür gekämpft, ins Gymnasium in Bad Mergentheim gehen zu dürfen. Dort im Kirchenbezirk Weikersheim hat sie mitbekommen, wie selbstverständlich Frauen im Pfarramt sein können. In diesem kleinen Kirchenbezirk gab es 1974 sieben Pfarrerinnen. „Ich erinnere mich daran, dass es in der Main-Tauber-Zeitung eine Doppelseite gab, auf der die Pfarrerinnen vorgestellt wurden. Ich seh die Fotos noch vor mir. In Weikersheim gab es 1984 auch die erste Dekanin Württembergs: Marianne Koch.“

Ilse Junkermann studierte Evangelische Theologie in Tübingen und Göttingen und entschied sich 1987 ganz bewusst für die Stephanusgemeinde hier in Cannstatt. Eine moderne, eine aufgeschlossene Gemeinde.

Frauengymnastikgruppen an der Stephanuskirche

Stephanuskirche
(Foto privat)

Auf meine Frage nach Frauenarbeit in der Stephanusgemeinde erzählt Ilse Junkermann von den Frauengymnastik-Gruppen.
„Die Frauengymnastikgeschichte ist einfach eine ganz tolle Geschichte, die mich sehr für mein Berufsleben geprägt hat. Bei meinem ersten internationalen Sommerfest in der Gemeinde saß eine türkische Frau mir gegenüber, voll verschleiert und ein bisschen fülliger. Sie sprach mich im reinsten Schwäbisch an: ‚Das ist toll, dass jetzt eine Frau hier ist. Aber ich hab eine Bitte an dich. Kannst du nicht dafür sorgen, dass es Gymnastik für Frauen gibt. Guck mich an, wie ich aussehe. Ich hab drei Kinder bekommen und will was machen. Aber unsere Männer lassen uns nicht in den Sportverein. Kannst du das nicht hier machen – nur für Frauen? Ihr habt so viel Platz‘. Ich war zunächst etwas zaghaft und skeptisch, ob das möglich ist in Gemeinderäumen. Aber der Kirchengemeinderat war sofort begeistert. Die Gymnastikmatten wurden finanziert, der Raum wurde kostenlos zur Verfügung gestellt. Jede Frau, die kam, musste zwei oder drei Mark zahlen. So wurde die Gymnastik-Lehrerin finanziert.
Da hab ich gemerkt, dass im Kirchengemeinderat Menschen aus der Jugendarbeit der 1950er Jahre saßen, die modern und progressiv waren. Die wussten: Man muss die Menschen bei ihren Bedürfnissen ansprechen. Das hatten sie schon als Jugendliche erfahren. Da waren Kanus angeschafft worden, es gab einen extra Jugendbereich mit Tischtennisplatten und Poolbillard. Das hat mich nochmal sehr für diese Gemeinde eingenommen. Ich hab gedacht: Wow! Die haben verstanden, wie man in einer säkularer werdenden Gesellschaft Kirche ist. Einfach im Öffnen und Teilen der Räume.“

Beim Gruppentanz am Festabend für Ehrenamtliche 1991 (Foto privat)

Die Gymnastik-Gruppen waren sehr erfolgreich und aus ihnen ließen sich Frauen für die Kirchengemeindearbeit gewinnen: Frauen für den Kirchengemeinderat, für die Kirchenpflege, für den Seniorenbereich, für die Kinderkirche.

„Es gab in der Gemeinde also viel Frauenarbeit im sehr weiten Verständnis. Ich bin regelmäßig in die Gymnastik gegangen, dort gab es viele Gespräche, auch gerade mit den jüngeren Frauen. Ich hab dort gelernt, wie Gemeinde funktioniert. Wir als Kirche müssen nicht mit Angeboten kommen und erwarten, dass die Menschen zu uns kommen. Sondern Gottes Geist führt uns auch Wege, die völlig ungewöhnlich sind. Wir müssen die Menschen nach ihren Bedürfnissen, ihren Erwartungen fragen. Bis heute trägt mich dieses Schlüsselerlebnis.“

Schwangerschaft und Rollentausch bei der Kinderbetreuung

Ilse Junkermann erzählt von ihrer Schwangerschaft während ihrer Zeit als Pfarrerin in Stephanus. Da ihr Kollege kurz vor ihrem Mutterschutz seinen ganzen Jahresurlaub genommen hatte, musste sie in dieser Zeit die gesamte Gemeinde versorgen.
„1990 war ein unglaublich heißer Sommer und ich hatte über drei Wochen hinweg jede Woche drei oder vier Beerdigungen. In dem schwarzen Talar, in der Hitze. Die Schwangerschaft an sich war kein Problem, denn die Menschen haben sie ausgeblendet. Das fand ich einerseits irritierend, aber andererseits auch ermutigend, dass die Menschen nur das Amt und das, was sie brauchen, wahrnehmen.“ Was sie schwierig fand, war das Verhalten des Kollegen, der sie sozusagen auf die Probe stellen wollte, ob sie das als schwangere Pfarrerin schafft – so hat sie es zumindest erlebt. Zu der Zeit teilte sich eine Pfarrerin normalerweise die volle Pfarrstelle mit ihrem Ehemann, dann übernahm der Ehemann während Mutterschutz- und Erziehungszeit die Aufgaben der Ehefrau. Nach der Geburt blieben die Pfarrerinnen zum großen Teil in Elternzeit und übernahmen die Rolle als Pfarrfrau. Ilse Junkermann war die einzige in ihrem Jahrgang, die mit einem Nicht-Theologen verheiratet war. Sie nahm nach der Geburt ihre Arbeit als Pfarrerin zügig wieder auf. Das war möglich, weil ihr Ehemann damals arbeitssuchend war und die Betreuung des Sohnes übernehmen konnte. Ein kompletter Rollentausch also, auch wenn Ilse Junkermann nachts oft als Mutter gefragt war.
„Gerade die Frauen in der Gemeinde fanden das toll. Die gleichaltrigen Mütter haben das mit großem Respekt, mit Hochachtung und vielleicht auch ein bisschen Neid angeschaut. Und nachdem die älteren Frauen gesehen hatten, wie sehr mein Mann sich dem Kind zuwendet und was für ein fürsorglicher Vater er ist, hat das auch sie versöhnt.“

Vorbereitung der Kindergottesdienste

Die Kindergottesdienste waren der andere Bereich, in dem Frauen sehr engagiert waren. „Der Vorbereitungskreis für den Kindergottesdienst war gleichzeitig auch ein Bibelkreis. Wir haben uns da die Geschichten gemeinsam erschlossen, sodass die Frauen das Thema im Gottesdienst frei vortragen konnten. Das hat ihre Erzählkraft enorm gestärkt und hat bei den Kindern große Wirkung entfaltet.“

Herstellung von Egli-Figuren 1988
(Foto privat)

Auch zu diesem Zweck hat die Gemeinde Egli-Figuren in einem eigenen Workshop hergestellt. Es sind Figuren, mit denen Szenen und Themen dargestellt werden können. „Da gab es spannende Gespräche, beispielsweise zur Frage, welche Hautfarbe Jesus hat.“ Durch diese vertiefende und intensive Vorbereitung und das elementare Erzählen waren die Kindergottesdienste in Stephanus bald sehr beliebt und es kamen in der Regel 30 Kinder.

Revier- und Konkurrenzverhalten in Männerrunden

In der Gemeinde selber kam Ilse Junkermann als Frau gut zurecht. Anders sah das in den Kirchengremien aus, wo sie oft als einzige Frau saß.
„Ich selber hab das gar nicht als so etwas Besonderes erlebt, als Frau im Pfarramt. Aber die Tatsache, unter 50 Männern die einzige Frau zu sein, hat mir gezeigt, dass die feministische Diskussion und das Frauenbewusstsein, das ich aus dem Studium mitgebracht hatte, noch sehr am Anfang stand.“ Dies ist Ilse Junkermann insbesondere bei den Dienstberatungen im Kirchenbezirk aufgefallen.
„Bei den ersten Beratungen hab ich gedacht: Na gut, jetzt tauscht man sich aus und berät gemeinsam Probleme. Aber es war ein einziges Revierverhalten. Die Männer haben erzählt, was sie alles toll machen. So konnten keine Probleme besprochen werden. Es ging nicht um die gemeinsamen Anliegen, sondern es hieß: Wer ist der Beste, wer ist der Größte.“ Solches Revier- und Konkurrenzverhalten hat sie in den Männerrunden, in denen sie im Laufe des Lebens immer wieder gesessen hat, oft erlebt. Mit einigen Männern war allerdings auch eine sehr konstruktive Zusammenarbeit möglich.

Während ihrer Zeit in Stephanus war Ilse Junkermann Ausbildungspfarrerin, auch auf Empfehlung von Dekan Wolf-Dietrich Hardung, der sie sehr förderte. Begonnen hatte es mit der Ausbildung von zwei Vikarinnen in Stephanus, anschließend arbeitete sie als Gast-Studienleiterin im Pfarrseminar in Birkach, parallel zu ihrer Arbeit in Stephanus.

Verabschiedung in Stephanus 1994 (Foto privat)

In den 1990er Jahren mussten in den Gemeinden die ersten Kürzungen vorgenommen werden. Da Cannstatt der Kirchenbezirk war, der die meisten Mitglieder verloren hatte, mussten hier am stärksten Pfarrstellen gekürzt bzw. gestrichen werden. Ilse Junkermann kämpfte schon damals im und mit dem Kirchenbezirksausschuss dafür, dass der Kirchenbezirk selber bestimmt, welche Pfarrstellen wie gekürzt werden. Die Überzeugung, dass nicht von oben herab entschieden werden kann, sondern dass die Gemeinden beteiligt werden müssen, zog sich durch ihr gesamtes Berufsleben.

Abschied von Stephanus und neue Aufgaben in Birkach

Als ihr 1994 die Stelle als Studienleiterin für Pastoraltheologie und Predigtlehre in Birkach angeboten wurde, hat sie diese angenommen.
Aber der Abschied von Stephanus war schmerzhaft. „Die sieben Jahre in Stephanus waren sehr reich gefüllt. Es ist unglaublich: meine Liebe zu Stephanus ist immer noch lebendig.“

Bei ihrer neuen Stelle in Birkach ging es um die Frage, wie sich die Zukunft des Pfarramtes gestalten lässt. „Das hatte mich ja schon nach Cannstatt gebracht. Nicht die traditionelle Kirche, sondern die, in der es Umwälzungen, Veränderungen gibt. Das ist vielleicht der rote Faden in meinem Berufsleben.“
Bis dahin hatte es eigentlich immer nur 100%-Stellen im Pfarramt gegeben, die sich Ehepaare gegebenenfalls teilen konnten. Nun gab es 50%-Stellen, 75%-Stellen. Das veränderte die Arbeit der PfarrerInnen natürlich. „Was bedeutet es, wenn der Pfarrer nicht mehr 24 Stunden da ist? Ich hab die StelleninhaberInnen befragt, eine empirische Auswertung gemacht und diese auch der Kirchenleitung vorgetragen.“

Bei einer Taufe

Das Thema Teildienst im Pfarramt ist natürlich auch ein Frauenthema. Die Frage, wie Frauen das Pfarramt verändern, wurde zu einer Zeit gestellt, als immer mehr Frauen ins Pfarramt drängten. In den Jahrgängen, die momentan in der Ausbildung sind, liegt der Frauenanteil bei über 50%, im Pfarrdienst liegt er heute bei etwa 35%.

Als Oberkirchenrätin zuständig für Stellenstreichungen – mit Beteiligung der Gemeinden

Bereits nach zwei Jahren als Studienleiterin wurde sie vom Landeskirchenrat gebeten, sich für die Stelle als Oberkirchenrätin, zuständig fürs Personaldezernat, vorzustellen. „Eine der stärksten Stellen, weil Personal und Finanzen die wichtigsten Struktur-Ressourcen sind.“
Der Landeskirchenrat hat damals bewusst jemanden mit innovativen Ideen gesucht. Später erfuhr sie, dass Männer, die zuvor gefragt worden waren, abgewunken hatten, weil ihnen der Posten in Zeiten von Stellenstreichungen zu heikel war. Auch Ilse Junkermann hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und im Vorfeld ein Klärungsgespräch mit der Frauenbeauftragten Gabriele Bartsch gesucht. Diese hat ihr zugeraten, da Frauen im Veränderungsprozess der Kirche eine wunderbare Chance sind, dass sich Perspektiven ändern. Aus dem Vorstellungsgespräch, in dem Frau Junkermann, wie sie sagt, ihre Vorstellungen klar vorgetragen hatte, ging sie erhobenen Hauptes, weil sie sich nicht verbogen hatte – und war sehr erstaunt, als ihr der Landesbischof als Vorsitzender dieses Gremiums am nächsten Tag mitteilte: „Wir haben Sie gewählt“.

Die Arbeit in diesem fast reinen Männer-Gremium war schwierig. Die zweite Frau Prälatin Dorothea Magenfeld hat sie gut unterstützt. „Die hatte viel mehr Erfahrung, wie man mit subtilen Demütigungen und Ausgrenzungen umgeht und frau sich trotzdem fröhlich behauptet. Das war sehr gut und sehr hilfreich.“ Zudem hat Landesbischof Eberhardt Renz Frauen enorm gefördert. Er verfolgte das Ziel aus der weltweiten Ökumene: in 10 Jahren 40% Frauen in jeder Funktion. So hat sich in seiner Zeit der Frauenanteil vervierfacht: von eins auf vier.  „Das war eine sehr schöne Erfahrung zu sehen, wie sich das Kollegium verändert, wenn wir mehr Frauen sind.“

Ihre Aufgabe als Personaldezernentin war es unter anderem, die notwendigen Kürzungsnahmen in den Kirchenbezirken zu erreichen. „Ich wollte, dass wir sehr stark in Beteiligungsprozessen Lösungen finden. Das war der rote Faden. Wie sind die Kürzungen nachvollziehbar und transparent, nach welchen Kriterien wird reduziert?“
Dieser partizipatorische Ansatz wurde nicht von allen gut geheißen Aber Ilse Junkermann glaubt, dass sie in der Personal- und Stellenpolitik der Württembergischen Landeskirche vieles zum Guten beeinflussen konnte.

Landesbischöfin von Mitteldeutschland

Landesbischöfin Ilse Junkermann
(epd-bild/Peter Endig)

2009 wurde Ilse Junkermann zur Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gewählt. Eine Landeskirche, die im gleichen Jahr durch den Zusammenschluss der Kirchen von lutherisch-Thüringen und uniert-Kirchenprovinz Sachsen gegründet worden war. Eine beeindruckende Karriere!

„Ich bin ja schon mit 39 Jahren Oberkirchenrätin geworden. Wenn ich da heute dran denke, muss ich immer noch tief Luft holen und finde: Da hast Du Dir ganz schön was zugetraut. Schon beim Besuch des Gymnasiums hab ich mir ganz schön viel zugetraut. Das zieht sich durch meine ganze Biografie, dass ich denke: Ich probier das jetzt aus und wenn das nicht geht, kann ich immer noch was anderes machen.“

Natürlich gab es auch Verletzungen und Kränkungen. So wurde ihrem Wunsch, nach der Befristung von zehn Jahren weitere vier Jahre bis zu ihrem Ruhestand Landesbischöfin in der EKM bleiben zu können, nicht stattgegeben.

„Als Bischöfin hab ich oft gedacht, der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint. Ich musste mich schon immer in fremden Bereichen zurechtfinden und schauen, was ist da möglich? Ich hatte immer das Gefühl von außen zu kommen, nicht von vornherein dazuzugehören: nicht aus einer Pfarrfamilie zu kommen, nicht aus dem Bildungsbürgertum, nicht aus dem Osten. So konnte ich die Situation immer von außen betrachten, ohne interne blinde Flecken.“
Auch Mitteldeutschland war eine ganz neue Situation für Ilse Junkermann, die sie versucht hat für sich zu erschließen. Von außen kommend, aus dem Westen.
„Da haben mir meine Erfahrungen, andere Kulturen zu erschließen, geholfen. Auch meine Art in Freiheit zu sagen, was problematisch ist, was verändert werden muss. Diese Fähigkeit, Klartext reden zu können und nicht westdeutsch harmonisierend, hat einerseits zu meiner Wahl geführt. Aber das hat auch dazu geführt, dass manche nach 10 Jahren gesagt haben: ‚Jetzt ist genug. Wir wollen auch mal wieder eine andere‘. Und das war nicht so einfach für mich.“

Aber Ilse Junkermann weiß, dass Veränderungsprozesse nicht immer nur gradlinig vorwärts gehen. „So ist es, wenn man die Geschichte der Frauen in der Kirche anschaut: einen Schritt vorwärts und dann geht’s auch mal im Rückschritt. Also ausatmen, bevor man dann nochmal Atem holen kann.“

Ilse Junkermann zusammen mit Margot Käsmann und Maria Jepsen 2017
(Foto: epd-bild/Peter Endig)

Als Ilse Junkermann 2009 als Landesbischöfin nach Magdeburg kam, war sie die dritte Bischöfin in der EKD und freute sich auf eine Zusammenarbeit mit den beiden anderen Frauen, vor allem in der Kirchenkonferenz. Aber Maria Jepsen, die seit 1992 Bischöfin in Hamburg war, und Margot Käßmann, die seit 1999 Landesbischöfin in Hannover war, traten beide 2010 zurück, sodass Ilse Junkermann zeitweise die einzige Bischöfin war.

„Während meiner Zeit als Landesbischöfin sind einige Bischofsstellen neu besetzt worden. Da waren immer Frauen dabei, die sich beworben hatten, aber keine wurde gewählt. In Bayern nicht, in Baden nicht, im Rheinland nicht, in Hannover nicht, in Berlin nicht. Das hat sich allerdings jetzt deutlich geändert. Mittlerweile gibt es fünf Bischöfinnen beziehungsweise Frauen im leitenden geistlichen Dienst. Und manchmal wäre ich gerne Mäuschen um zu sehen, wie sie die Dynamiken in der Kirchenkonferenz ändern.“

Frauen müssen Argumente drei Mal sagen, bevor sie gehört werden – und dann gelten sie als zänkisch

In Besprechungen haben es Frauen ihrer Meinung nach schwerer sich durchzusetzen. „Eine Äußerung von einer Frau wird zunächst einmal nicht gehört. Wenn sie es das zweite Mal sagt, dann hat man es gehört … und abgehakt. Und wenn sie es das dritte Mal sagt, dann gilt sie als zänkisch.“ Daher müssen Frauen sich gegenseitig unterstützen und das von einer Frau vorgetragene Argument aufnehmen und wiederholen. Und am besten eine andere Frau noch einmal. So könne männliches Hörverhalten geändert werden.

Bei der Enthüllung eines Mahnmals in Eisenach 2019

In ihrer Zeit als Landesbischöfin von Mitteldeutschland wurde die Frage gestellt, ob sie als Frau durchsetzungsstark genug sei. „Leitungspersonen sollen ja durchsetzungsfähig sein, verhandlungsstark, beharrlich, für das Ganze einstehen. Und wenn Frau in Leitung sich dann so verhält, wird es kritisch bewertet, es wird eine ‚weiblichere Rolle‘ erwartet. Weibliche Durchsetzungskraft bekommt eine andere Konnotation als männliche.“ Diese Erfahrung war schwierig für Ilse Junkermann und der Rückmeldung, sie habe als Bischöfin oft angespannt gewirkt, stimmt sie zu.

In den Gemeinden in Mitteldeutschland dagegen war ihr „Frau-Sein“ gar kein Problem. Da gab es eher Vorbehalte, weil sie aus dem Westen kam. „Immer wieder kam es vor, wenn ich in einer Gemeinde zu Besuch war, dass irgendwann der Satz fiel: ‚Ach, Sie sind ja gar nicht so.‘ Dann hab ich gegrinst und gefragt: ‚Wie denn?‘ Und dann die Antwort: Na ja irgendwie so … wie ein Wessi.‘“

Die Selbstverständlichkeit, mit der ostdeutsche Frauen berufstätig sind, sieht Ilse Junkermann sehr positiv. „Dass eine berufstätige Frau sich nicht als Rabenmutter fühlt, hat die DDR für die Frauen erreicht.“ Auch in der Kirche im Osten ist es selbstverständlich, dass die Pfarrerin nach der Geburt eines Kindes wieder arbeitet.

Forschungstelle Kirchliche Praxis in der DDR

Universität Leipzig

Nachdem ihre Bischofszeit nicht verlängert worden war, wurde auf ihre Anregung hin 2019 die Forschungsstelle Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche sein in Diktatur und Minderheit am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig eingerichtet. Es geht darum, die Erfahrungen zu sammeln und auch für heute zu nutzen, die die Menschen in den Kirchen der DDR in der Minderheitssituation gemacht haben. Auch hier geht es um die Veränderungsprozesse, die die Kirchen aktuell durchmachen.
„Ich hab als Landesbischöfin mit großer Beschämung immer wieder gemerkt, wie wenig ich die damals in der DDR-Kirche diskutierten Konzeptionen wirklich kenne. Ich hatte das innerlich wie die meisten als ‚vergangen, erledigt‘ abgehakt. Das allermeiste, was praktisch-theologisch gedacht wird und auch in EKD-Papieren steht, ist sehr stark von der westlichen Perspektive geleitet. Wir haben jetzt, Gott sei gedankt, eine gemeinsame Gegenwart, aber sie ist zugleich unterschiedlich aufgrund der anderen Geschichte. Für eine gemeinsame veränderte Zukunft brauchen wir diese Erfahrungen und Konzeptionen aus den Kirchen der DDR. Da sind wirklich Schätze vergraben. Und es macht mir große Freude, dieses Forschungsfeld ein bisschen zu eröffnen.“

Ihre Aufgabe ist es, diese Forschungen auch im ökumenischen Horizont vorzubereiten. So soll beispielsweise ein Who-is-Who der Kirchen in der DDR erstellt werden. Es müssen ZeitzeugInnen-Interviews geführt werden, damit das Wissen nicht verloren geht.

Und da schließt sich der Kreis. Denn nun ist Ilse Junkermann in diesem Interview selbst Zeitzeugin, die davon berichtet, wie sie als junge Pfarrerin hier in Cannstatt gelebt und gearbeitet hat.
„Ich musste mich nach Ihrer Anfrage erst einmal innerlich damit auseinandersetzen, dass ich Zeugin von Zeitgeschichte bin. Ich bin plötzlich in einem Rollenwechsel. Das ist ja auch ganz spannend zu sehen, was es bedeutet Zeitzeugin zu sein.“

Zum Schluss meint Ilse Junkermann noch:
„Ich freu mich sehr, dass die Cannstatter Schlüsselerfahrungen für mein ganzes Leben auch vor diesem Horizont laut werden und gewürdigt werden.
Neben manchem Schmerz habe ich so viel Grund zu Dankbarkeit und Freude. Das Leben ist so reich. Gott meint es so gut mit mir“

Bildnachweise

Ilse Junkermann bei einer Taufe:
Kaelbchen19, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45529958

Mahnmal in Eisenach:
Alexandra Husemeyer – Archiv der Stiftung Lutherhaus Eisenach, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=80025741

Universität Leipzig:
Pedelecs auf wikivoyage shared, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23018827

Was mich mit der Hocketse der Liebfrauengemeinde verbindet

Foto: privat

Diesen Text schickte mir Stephanie Pfaller von der Liebfrauengemeinde.

Zu meiner Person: Ich heiße Stephanie Pfaller. Seit Mitte der 80er Jahre bin ich in der Cannstatter Liebfrauengemeinde aktiv – der Firmung 1985 sei Dank. Angefangen habe ich in der Jugendarbeit mit Jugendgruppen, dem Clubrat und der Pfarrjugendleitung. Dadurch kam ich dann zum Kirchengemeinderat, in dem ich zirka 30 Jahren lang aktiv war.
Seit 1987 singe ich mit großer Leidenschaft, anfangs im damals neu gegründeten Jugendchor (heute Chorisma Cannstatt) und bis heute im Kirchenchor Liebfrauen.

Liebfrauenkirche
Foto: Markus Vogel

Von Anfang an war ich bei der Hocketse der Liebfrauengemeinde dabei. Es hat mir immer viel Spaß gemacht, bei diesem tollen Sommerfest mitzuhelfen und es auch aktiv mitzugestalten. Nach dem Abschied von Pfarrer Josef Reichart, den wir mit der Hocketse im Jahr 2000 würdig gefeiert haben, habe ich die Leitung des Veranstaltungsausschusses übernommen und in den folgenden Jahren die Hocketse maßgeblich mitgestaltet. Auch alle anstehenden Änderungen, wie zum Beispiel die neuen Hygienemaßnahmen und die sich immer wieder verändernden städtischen Auflagen habe ich mit dem Team zusammen umgesetzt. Heute bin ich weiterhin im Ausschuss tätig, als Stellvertreterin von Adrian Schirling, der die Leitung aktuell innehat.
Der Ausschuss veranstaltet auch die beiden Faschingsveranstaltungen der Gemeinde, den Kinder- und den Gemeindefasching. Als Gründungsmitglied singe ich seit 23 Jahren bei den „Liebfrauen Harmonists“, die traditionell am Gemeindefasching auftreten.

Hocketse 1990
Foto: privat

Die Hocketse Liebfrauen wurde im Jahr 1974 als Gemeindefest gegründet und diesen Charakter hat das Fest bis heute beibehalten. Das Straßenfest findet traditionell rund um die Kirche und das Gemeindezentrum statt und hat neben diversen Verkaufsständen eine Tombola, sowie ein Programm für unsere Kids. Von Anfang an spielte der Cannstatter Bläserkreis auf unserer Hocketse und gehört einfach zu unserem Gemeindefest dazu. Viele Jahre war die Wildunger Straße entlang der Kirche und dem Gemeindezentrum während des Fests gesperrt, und die Sitzgarnituren standen auf der Fahrbahn. Das haben wir vor ein paar Jahren ändern müssen und bestuhlen nun die Fläche hinter der Kirche. Die finanziellen und bürokratischen Hürden wurden einfach zu groß. Dadurch hat das Fest aber wieder einen etwas kleineren und ursprünglicheren Charakter erhalten und die Sitzplätze liegen bei sommerlicher Hitze zudem im Schatten. Über die Jahre hinweg haben wir immer wieder auf Veränderungen, die uns über Regelungen unter anderem von der Stadt auferlegt wurden, reagieren und Änderungen vornehmen müssen. Das ist uns jedoch immer gut gelungen ist und hat auch zu diversen Verbesserungen geführt hat. Zum Beispiel die Anschaffung unserer schönen, großen 3 x 6-Meter-Zelte, die für Schatten an den Verkaufsständen und für die Besucher sorgen.

Foto: Martin Kneer

Das Gemeindefest ist nur deshalb über die vielen Jahre immer wieder möglich gewesen, weil so viele fleißige und treue Helfer im Einsatz sind. Für die Durchführung des Fests sind das in der Regel um die 80 Menschen, die vor, während und nach dem Fest mithelfen und einen Dienst übernehmen. Ich freue mich jedes Jahr wieder riesig darüber, wenn ich alle Helfer beisammen habe. Bislang hatten wir dankenswerterweise immer genügend Menschen, die ehrenamtlich mithelfen.

Leider mussten wir im Jahr 2020 Corona-bedingt unsere Hocketse absagen und auch für 2021 sieht es aktuell so aus, dass das Fest nicht stattfinden kann. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir wieder mit allen Helfern und Besuchern unbeschwert feiern können, wenn die Pandemie endlich wieder vorbei ist. Darauf freuen wir uns heute schon!

Stephanie Pfaller

Die Anna-Klinik

Schon Generationen von CannstatterInnen wurden in der Anna-Klinik geboren. Wenn Frau in Cannstatt schwanger war, ging sie in die Anna-Klinik!
Aber woher kommt der Name Anna-Klinik?

Haupteingang

Eigentlich heißt sie ja St. Anna-Klinik und das verweist schon auf die Herkunft des Namens. Die Klinik ist 1969 von den St. Anna-Schwestern übernommen worden.

Die St. Anna-Schwestern aus Ellwangen

Kloster Schoenenberg

Die Anna-Schwestern kommen aus Ellwangen und sind 1921 von Anton Eberhard in Ellwangen zunächst einmal nicht als Orden, sondern als Verein gegründet worden. Anton Eberhard war Wallfahrtspfarrer auf dem Schönenberg bei Ellwangen. Die Anna-Schwestern sollten ein sogenannter Drittorden der Franziskanerinnen sein, ein weltlicher Verein mit einem starken religiösen Bezug. Die Schwestern waren immer unterwegs und betreuten Wöchnerinnen und ihre Säuglinge zuhause. Der Gründer Anton Eberhard war damals der Meinung, dass sich damit kein Leben in einem Orden vertrüge. Daher wurde zunächst nur ein Verein, und kein Orden, gegründet.
Die Schwestern legten zwar keine Gelübde ab, aber laut Vereinssatzung wurde von ihnen Charakterfestigkeit, Treue, Opfersinn, Demut und Verschwiegenheit gefordert!
Sie hatten eine Art Ordensgewand, sodass sie als Schwestern zu erkennen waren.
Die medizinische Ausbildung der Schwestern erfolgte an der Landesfrauenklinik in Stuttgart und im Margaretenheim in Schwäbisch-Gmünd.
Die eigentliche Leitung des Vereins übernahm Pfarrer Anton Eberhard selber. Ab 1924 wurde zwar auch eine Schwester Oberin gewählt, diese war aber dem Pfarrer untergeordnet.

Die Schwestern bauten die erste St. Anna-Klinik auf

Und wie kamen diese Schwestern nun nach Cannstatt?

Liebfrauenheim

Leopold Kurz, der selber in Ellwangen geboren und seit 1927 als Pfarrer in Liebfrauen tätig war, fragte 1931 bei Anton Eberhard an, ob die Ellwanger Anna-Schwestern auch eine Schwesternstation in Cannstatt errichten könnten, um die Schwangeren und die Wöchnerinnen mit ihren Neugeborenen zu betreuen. Für diese Aufgabe übernahmen die Schwestern zunächst die Pflege in der Privatfrauenklinik von Dr. Hochköppler, die sich im Haus neben dem Pfarrhaus befand. Kurze Zeit später übernahmen die Schwestern diese Klinik selber und bauten sie zur ersten St. Anna-Klinik aus. Also dort, wo sich heute das Liebfrauenheim befindet.
Pro Jahr kamen dort circa 1000 Kinder zur Welt.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Klinik neben dem Pfarrhaus vollkommen zerstört, konnte aber wiederaufgebaut und 1950 neu eröffnet werden.

Entwicklung der Gemeinschaft hin zu einem Orden

Die Anna-Schwestern, deren Mutterhaus sich bis heute in Ellwangen befindet, haben ihre Gemeinschaft im Laufe der Jahre immer weiter zu einem echten Orden entwickelt. Bereits 1938 war das Noviziat eingeführt worden und 1951 das Stundengebet. In der Satzung von 1955 wurde aus dem Verein die „Gemeinschaft der St. Anna-Schwestern“, die nun auch für Altenpflege und Seelsorgehilfe zuständig waren.
Die Leitung der Gemeinschaft teilten sich nun die Schwester Oberin und der Direktor gleichberechtigt, immerhin. 1977 wurde die Gemeinschaft dann endlich in einen Orden umgewandelt.
Die Anna-Schwestern hatten in den 1960er Jahren ihre Hoch-Zeit: 240 Schwestern, die in 42 Niederlassungen arbeiteten, u.a. eben auch in Cannstatt. Seitdem geht ihre Zahl allerdings kontinuierlich zurück.

Übernahme der heutigen St. Anna-Klinik

St. Anna-Klinik

Am 1. Juli 1969 übernahmen die Anna-Schwestern in Cannstatt zusätzlich das Krankenhaus am Augsburger Platz, das bis dahin als Privatklinik den Namen „Mertz-Klinik“ getragen hatte. Dort bauten die Anna-Schwestern eine zweite Frauenklinik auf.

Das Krankenhaus neben dem Pfarrhaus blieb zunächst als Liebfrauenklinik bestehen. Der Name Anna-Klinik aber ging auf das Krankenhaus am Augsburger Platz über. Erst 1986 wurde die Liebfrauenklinik in die Anna-Klinik integriert, bis dahin hatten die Anna-Schwestern beide Krankenhäuser betreut.
Heute beherbergt die Anna-Klinik am Augsburger Platz, die eine reine Belegklinik ist, neben der Frauenklinik auch eine Augenklinik und eine Chirurgische Klinik.

Liebfrauenheim

St. Anna-Seniorenheim

Die ehemalige Liebfrauenklinik neben der Kirche wurde zu einem Alten- und Pflegeheim unter dem Namen Liebfrauenheim umgebaut. Dieses Alten- und Pflegeheim zog 2001 in einen Neubau in der Dürrheimer Straße 12 um, auf dem Gelände, auf dem sich früher die Firma Terrot befand, neben dem Cannstatter Carré. Es erhielt den Namen St. Anna-Seniorenheim und erinnert nun wieder an die Anna-Schwestern, die den Grundstock gelegt hatten.

Trägerin vom St. Anna-Seniorenheim und von der St. Anna-Klinik ist seit 2000 die St. Anna-Stiftung.

Das Liebfrauenheim wird heute als Flüchtlingsheim genutzt.

Weitere Aufgaben der St. Anna-Schwestern in Cannstatt

Albertus-Magnus-Gymnasium

Die St. Anna-Schwestern hatten in Cannstatt neben der Anna-Klinik und dem Liebfrauenheim weitere Aufgaben übernommen. So betrieben sie im Sommerrain von 1948 bis 1975 eine Station für die Familienpflege. Und sie übernahmen – wie in manch anderen Einrichtungen auch – von 1965 bis 1983 die Wirtschaftsführung des damaligen Spätberufenen-Seminars Collegium Ambrosianum, dem heutigen Albertus-Magnus-Gymnasium.

Literatur

  • Uwe Scharfenecker: Die Kongregation der St. Anna-Schwestern, in: Wolfgang Zimmermann (Hg.): Württembergisches Klosterbuch, S. 574 – 577
  • 100 Jahre Katholische Kirchengemeinde Liebfrauen Bad Cannstatt, Stuttgart 2008, S. 66 – 67

Links

Bildnachweis

Alle Fotos privat

Beginen in Cannstatt

Klösterle

Wir kennen alle das Klösterle, das alte Haus am Neckar-Eingang der Altstadt von Cannstatt, am Thaddäus-Troll-Platz, da wo auch der Entaklemmer steht.

Das Klösterle wurde 1463 erbaut und jahrelang sind wir davon ausgegangen, dass hier Ende des Mittelalters Beginen lebten, eine Gemeinschaft von Frauen, ähnlich wie ein Orden – daher der Name Klösterle. Dies wird aber mittlerweile in Frage gestellt. Klar ist allerdings, dass es Beginen in Cannstatt gab, von denen es aber leider fast keine Spuren gibt. Es wird vermutet, dass es eine Beginengemeinschaft in der Brählesgasse gab und eine in der Überkinger Straße 16 mit einem Zugang von der Brunnenstraße her. Dieses Haus, das weiß man, ging mit der Reformation in den städtischen Armenkasten über. Zudem gab es wohl eine Beginengemeinschaft in der Nähe der Liebfrauenkirche.

Brählesgasse (Foto privat)

Was sind denn nun eigentlich Beginen?

Beginen sind kein Orden, sondern eine ordensähnliche Gemeinschaft. Frauen haben im späten Mittelalter diese Gemeinschaften gebildet, weil sie zum einen ein religiöses Leben führen wollten und zum anderen bedürftigen Menschen helfen wollten, sie wollten wohltätig sein. Manche konnten oder wollten nicht in ein Kloster eintreten, manche wollten sich aber auch keiner Klausur unterwerfen, die gerade im späten Mittelalter in den Frauenklöstern sehr streng gehandhabt wurde.

Überkingerstr. 16
(links, Foto privat)

Wer in eine Beginengemeinschaft eintrat, musste keine Gelübde ablegen. Die Frauen mussten lediglich die Hausordnung einhalten, welche allerdings oft den Gehorsam und die Keuschheit verlangte. Aber die Frauen mussten sich nicht lebenslang binden, sie hätten jederzeit austreten können, was sie aber fast nie taten.

Aufgenommen wurden unverheiratete Frauen, aber auch verheiratete, wenn der Ehemann dem zustimmte. Und auch Witwen. Die Frauen kamen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Zunächst waren es oft adelige Frauen, später auch Frauen aus Kaufmannsfamilien, Handwerkerfamilien – und auch Frauen ohne jeglichen Besitz wurden aufgenommen.

Woher der Name kommt, ist bis heute nicht wirklich geklärt.

Erste große Beginengemeinschaften in Brabant

Die ersten Beginengemeinschaften entstanden etwa um 1250 in Brabant (Belgien und Niederlanden). Danach breiteten sie sich über ganz Westeuropa aus. Es war eine echte Massenbewegung. In dieser Zeit gab es eine Frömmigkeitsbewegung in der Gesellschaft: jeder Mensch war gefordert, ein gottgefälliges Leben zu führen. Das konnte man am besten in einem Kloster. Es entstanden immer mehr Klöster, die aber gar nicht alle aufnehmen konnten. Insbesondere die Frauen fühlten sich zum Leben im Orden hingezogen, denn nach der damaligen Vorstellung neigte die Frau zum Bösen, sie war die Verführerin des Mannes. Eva, die schuld war an der Vertreibung aus dem Paradies, war hier die Patin. Die Frau konnte sich von diesem Bösen nur befreien, wenn sie sich von ihrer Sexualität lossagte, sprich: wenn sie ins Kloster ging. Da die Klöster nicht alle Willigen aufnehmen konnten, entstanden sogenannte Drittorden, und es entstanden die Beginengemeinschaften. Eigentlich also aus der Not geboren, entwickelten sie sich zu einer eigenständigen Sonderform des religiösen weiblichen Lebens im Spätmittelalter.

Beginenhöfe in Brügge

Viele kleine Beginengemeinschaften in Deutschland

Im deutschsprachigen Raum weiß man von etwa 1000 solcher Beginengemeinschaften, die allerdings nur wenige Spuren hinterlassen haben. Oft wird in alten Schriften einfach darauf hingewiesen, dass es dort Beginen gegeben habe. Die Häuser selber haben – anders als die Klöster – keine Geschichtsschreibung betrieben, keine Bücher geführt.
Räumliche Schwerpunkte waren zunächst das Rheinland und hier insbesondere die mittelalterlichen Großstädte, wie Köln, Mainz, Straßburg und Basel. Allein in Köln wissen wir von insgesamt 171 Beginengemeinschaften. Später wurden dann viele Beginengemeinschaften im ländlichen Raum mit Schwerpunkt auch im Bodenseeraum gegründet.

Begine von Matthäus Brandis (1489)

Die frühen Beginengemeinschaften in Brabant waren oft sehr groß und widmeten sich der Textilherstellung. Die Häuser in Deutschland waren dagegen eher klein und übernahmen soziale Aufgaben. Gerade in der Krankenpflege haben die Beginen sehr viel geleistet. Manchmal haben sie in ihren Häusern Kranke aufgenommen und waren damit die ersten Krankenhäuser. Oft begleiteten sie auch die Sterbenden und versorgten die Toten. Daher wurden sie auch „Seelschwestern“ genannt.

Die Häuser wurden durch Spenden finanziert. Manchmal wurden sie von einem Stifter gegründet, der sich durch eine solche finanzielle Gabe Seelenheil erhoffte. Die Schwestern verpflichteten sich für das Geld Seelenmessen zu halten. Zudem brachten auch einige Beginen Vermögen mit in die Gemeinschaft ein, das nach ihrem Tod in der Gemeinschaft verblieb. Die Beginengemeinschaften erwirtschafteten aber auch ihren Lebensunterhalt durch ihre Arbeit.

Die Kirche sah die Beginengemeinschaften sehr kritisch und versuchte, sie unter Kontrolle zu halten. Das war in den kleineren Gemeinschaften in Deutschland eher möglich (zum Beispiel über die Beichtväter), als in den großen Beginenhöfen in Brabant. Diese waren oft sehr mächtig und eher unabhängig von der Kirche.

Ende der Beginengemeinschaften durch die Reformation

Das Ende der Beginengemeinschaften bildete die Reformation, zumindest wo diese sich durchsetzte, so wie hier in Stuttgart. Alle Klöster und auch die Beginengemeinschaften wurden aufgelöst. Dies haben die Städte teilweise sehr bedauert, da sie abhängig davon waren, dass die Beginen z.B. die Versorgung der Kranken übernahmen. Diese Aufgaben mussten nun die Städte selber übernehmen.

Der Beginengedanke wurde in neuerer Zeit von der Frauenbewegung wiederbelebt. Es gibt Frauenwohngemeinschaften, die sich ausdrücklich auf die Beginen berufen. Im Dachverband der Beginen sind all diese Projekte gebündelt.

Klösterle von der Seite

Geschichte des Klösterle in Cannstatt

Und welche Geschichte steckt nun hinter dem Klösterle, wenn es kein Beginenhaus war?

Es wurde wohl 1463 als bürgerliches Wohnhaus mit Hofareal und Nebengebäuden gebaut. Im ersten Stock gibt es eine integrierte gotische Kapelle, die vielleicht vermuten ließ, dass es sich um ein Beginenhaus handelte.

Das Haus sollte in den 1970er Jahren abgerissen werden, um Platz zu machen für ein großes Kaufhaus, einen Supermarkt. Der frisch gegründete Verein Pro Alt-Cannstatt sammelte 100.000 DM für den Erhalt. Und der Architekt Hermann Kugler kaufte das Gebäude und ließ es sanieren, mit Zuschüssen der Stadt und Unterstützung durch Pro Alt-Cannstatt. 1984 wurde es feierlich wieder eröffnet und beherbergt heute Kuglers Büro, die schwäbische Weinstube „Klösterle“ und das Stadtmuseum Bad Cannstatt.

Links

Literatur:

  • Claudia Weinschenk: Beginen in Cannstatt. 1541 wurde die karitative Frauengemeinschaft aufgelöst, in: Pro Alt-Cannstatt (Hg.): „Und die Frauen?“ Cannstatter Frauengeschichte(n) aus zehn Jahrhunderten, Ludwigsburg 2021
  • Helga Unger: Die Beginen. Eine Geschichte von Aufbruch und Unterdrückung der Frauen, Freiburg 2005

Bildnachweise

Die Nachkriegszeit in Liebfrauen – Veranstaltungen des Katholischen Frauenbunds

Blättert man durch die Kirchlichen Mitteilungen von Liebfrauen aus der direkten Nachkriegszeit, dann fallen so einige Veranstaltungshinweise für Frauen auf. Die Frauen waren in der Nachkriegszeit besonders gefordert: Viele Männer waren gefallen, andere waren noch in Gefangenschaft, wieder andere waren verstört aus dem Krieg heimgekehrt. In vielen Familien lag die Hauptlast des Wiederaufbaus bei den Frauen. Und die Kirche bot ihnen Veranstaltungen an, um sie zu unterstützen, aber auch damit sie sich in dieser nach dem Krieg so veränderten Welt zurechtfinden.

Helene Weber in Cannstatt

Da ist zum einen die politische Bildung. Demokratie musste nach Jahren der Diktatur neu gelernt werden. So kam am 28. August 1948 Helene Weber nach Cannstatt in die Wiesbadener Straße 22, um über die neue politische Ordnung zu sprechen. Helene Weber war damals die wichtigste Politikerin der CDU. Von ihr stammt die Aussage: „Der reine Männerstaat ist das Verderben der Völker.“ Dabei bezog sie sich auf die beiden von Männern geplanten und durchgeführten Weltkriege, unter deren Folgen alle noch zu leiden hatten. Sie war eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“ und hat an der Seite von Elisabeth Selbert und gemeinsam mit zwei weiteren Frauen den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz erkämpft. Sie war eine katholische Feministin und Konrad Adenauer meinte, sie habe „ … mehr Politik im kleinen Finger als mancher Mann in der ganzen Hand.“
Ihr Vortrag in Cannstatt hatte den Titel: „Die christliche Frau an der Wende der Zeit“.

Die Ärztin Dr. Sauter, die auch Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes an Liebfrauen war, hielt einen Vortrag über „Moderne Gesundheitsfragen“. Hierzu wurden auch die Männer eingeladen, darauf wurde extra hingewiesen.

Hilfe in der Kindererziehung der Nachkriegszeit

Auch der Diskussionsabend zu den Schulreformplänen am 14. März 1948 wurde gemeinsam mit den Männern vom Kolpingverein veranstaltet. In Stuttgart hatte im Februar 1948 eine Konferenz der Erziehungsminister stattgefunden, auf der gemeinsam mit den Besatzungsmächten der westlichen Zonen die Neuausrichtung der Schulen in Deutschland beschlossen worden war. Die bis Kriegsende nationalsozialistisch geprägten Schulen sollten nun im Geiste von Demokratie und Völkerverständigung wiederaufgebaut werden. Die SchülerInnen sollten zu selbständig urteilenden Menschen erzogen werden, die verantwortungsbewusst handeln. Bildung sollte zudem allen Kindern offen stehen, unabhängig vom Status und Gehalt der Eltern.

Probleme in den Schulen waren zum einen die politische Vorbelastung der LehrerInnen, aber auch die ungenügende Ausstattung der Schulen und die unzureichende Versorgung der Kinder mit Nahrung, Kleidung und Lernmaterial.

Zudem hatten viele Kinder aufgrund der Kriegserlebnisse Ängste, Traumata. Viele galten als schwer erziehbar, als verhaltensauffällig. Mit den Problemen der Kindererziehung standen viele Frauen allein da. Daher bot der Katholische Frauenbund Stuttgart in seiner Geschäftsstelle am Bismarckplatz im Westen eine Beratungsstelle für schwer erziehbare Kinder an.

Wallfahrten ins nicht zerstörte Umland

Um die Frauen, die in der Nachkriegszeit sehr belastet waren, zumindest zeitweise zu entlasten, bot der Katholische Frauenbund immer wieder Einkehrtage und Wallfahrten an. Bereits 1946 bot der Frauenbund einen Einkehrtag in der Kolpingkapelle an, auf dem der Rektor der Universität Hohenheim Vorträge halten sollte. Das Thema wurde leider nicht genannt, aber alle Frauen waren eingeladen.

1948 wurde im Nähsaal von St. Georg an der Heilbronner Straße ein Einkehrtag angeboten, der sich aber nur an berufstätige Frauen und Mädchen richtete, an Kriegerwitwen und an Frauen von Vermissten. Ich finde, dass das eine interessante Zusammenstellung ist: Berufstätige und Frauen ohne Männer. Das könnte darauf hindeuten, dass damals nur die Frauen berufstätig waren, die keinen Ehemann hatten

Kloster Schoenenberg

Ein besonderes Highlight waren offensichtlich die Wallfahrten, die einen regen Zulauf hatten. Für die Frauen eine Gelegenheit, aus dem immer noch zerstörten Stuttgart herauszukommen, in die Natur, in eine Gegend, die nicht vom Krieg zerstört war.

Blick vom Schoenenberg

Am 19. Juli 1946 fand eine Frauenwallfahrt zum Kloster Schoenenberg bei Ellwangen statt, wo es am Vormittag eine Messe auf dem Berg gab, mit anschließender Beichtgelegenheit. Mittags gab es Eintopf und nachmittags wurde das Grab von Philipp Jeningen besucht, dem Jesuiten, der im 17. Jahrhundert in Ellwangen gelebt hatte und nach dem das Philipp-Jeningen-Haus in der Winterhalde benannt war. Außerdem wurde das Grab von Leopold Kurz besucht, dem ehemaligen Pfarrer von Liebfrauen.

Rottenburg

An der Wallfahrt nach Rottenburg im Juli 1947 nahmen 173 Teilnehmerinnen von Liebfrauen teil, daher musste die Wallfahrt an zwei Terminen durchgeführt werden. Für die Reise wurden extra Sonderzüge bei der Bahn reserviert. Dort in Rottenburg trafen sich dann Frauen aus vielen Gemeinden der Diözese. Insgesamt nahmen 2400 Frauen an dieser Wallfahrt teil. Man muss das vor dem Hintergrund sehen, dass in der Nachkriegszeit niemand Reisen machen konnte, jeder war gefangen in seiner Sorge, ein Leben wieder aufzubauen, die Familie zu ernähren. Da war sicher eine solche Gelegenheit zur Reise, zu einem Treffen mit anderen Frauen ein mehr als willkommener Anlass.

Bei der Frauenwallfahrt nach Deggingen im Mai 1948 nahmen noch mehr Frauen teil. Es wurden 220 Frauen von Liebfrauen gezählt. Im gleichen Jahr im Oktober wurde eine zweite Wallfahrt nach Bad Wimpfen organisiert: vormittags gab es einen Gottesdienst in der Benediktinerabtei Grüßau, nachmittags eine Marienfeier mit Ansprache, dazwischen ein gemeinsames Mittagsessen. Da diese Wallfahrt nach der Währungsreform stattfand, mussten die Frauen keine Essensmarken mehr für die Versorgung abgeben. Sie mussten 5 DM für die Fahrt zahlen und 1 DM für das Mittagsessen.

Das jährliche Bundesfest des Katholischen Frauenbundes am 6. Juli (Mariä Heimsuchung: Besuch der schwangeren Maria bei ihrer ebenfalls schwangeren Cousine Elisabeth) wurde auch in Liebfrauen gefeiert. Schon 1946 gab es eine Gemeinschaftsmesse in der Kolpingkapelle. Die eigentliche Kirche war ja noch nicht wieder aufgebaut. In den Kirchlichen Mitteilungen vom 30. Juni 1946 steht dazu:
„An die Seite des Männerwerks tritt mehr und mehr das Frauenwerk, das alle Frauen der Pfarrgemeinde umfasst. Es will sie schulen und auf dem Laufenden halten. Viele katholische Frauen haben in letzter Zeit den Aufruf der Stunde verstanden und den Anschluss an den Frauenbund und an das Frauenwerk gefunden. Die Versammlungen in letzter Zeit wiesen immer einen sehr starken Besuch auf.“

Was ist der Katholische Deutsche Frauenbund ?

Was ist nun dieser Frauenbund? Wann wurde er gegründet und welche Zielsetzungen hat er?

Der Katholische Frauenbund, der heute Katholischer Deutscher Frauenbund (KDFB) heißt, wurde bereits 1903 in Köln gegründet, und zwar von der katholischen Frauenbewegung. Heute hat der Frauenbund bundesweit etwa 180.000 Mitglieds-Frauen. Sein Ziel ist es laut Wikipedia, „am Aufbau einer Gesellschaft und Kirche mitzuwirken, in der Frauen und Männer partnerschaftlich zusammenleben und gemeinsam Verantwortung tragen für die Zukunft in einer friedlichen, gerechten und für alle lebenswerten Welt“.

Dafür bietet der KDFB ein Bildungsprogramm, das sich an den Interessen der Mitgliedsfrauen orientiert. Sie gestalten Gottesdienste und weiterhin auch Wallfahrten und sie beteiligen sich am Weltgebetstag.

Außerdem äußert sich der Frauenbund immer wieder zu politischen und gesellschaftlichen Themen. So fordert er, dass auch Frauen zum Priesteramt zugelassen werden, und er fordert eine Reform der römisch-katholischen Sexualmorallehre. Er setzt sich u. a. für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare innerhalb der Katholischen Kirche ein.

Den Katholischen Deutschen Frauenbund gibt es in der Liebfrauengemeinde heute nicht mehr. Aus der Gruppe der Frauenbund-Frauen ist der Seniorenkreis entstanden. Die Frauen sind also älter geworden und bieten ein altersgerechtes Programm an. Jüngere Frauenkreise in der Liebfrauengemeinde organisieren sich nicht im Katholischen Deutschen Frauenbund.

Elisabeth Skrzypek

Literatur

  • Kirchliche Mitteilungen der Stadtpfarrgemeinden Liebfrauen, St. Martin und St. Rupert, Bad Cannstatt. Unter Mitarbeit von Pfarrei Sankt Rupert (Cannstatt). Bad Cannstatt: Stadtpfarramt (einsehbar im Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek)
  • Wikipedia: Helene Weber, Katholischer Deutscher Frauenbund

Bildnachweise

Von Befreiungstheologen, dem Hallschlag, von Finanzen, Waldheimen und den „Socken für den Stall“ – Porträt der Dekanin i.R. Wiebke Wähling

Von Wiebke Wähling hatte ich gehört, dass sie sich als Pfarrerin sehr für den Hallschlag eingesetzt hätte und auch Dekanin geworden wäre. Das machte mich neugierig auf ein Gespräch. Und ich wurde wirklich nicht enttäuscht. Wiebke Wähling hat eine Stunde lang aus ihrem Leben erzählt und ich war beeindruckt, was sie alles zu erzählen hatte.

Wiebke Wähling

Nach dem Studium Erfahrungen in Ecuador gesammelt

Wiebke Wähling studierte evangelische Theologie in Bethel und in Tübingen, so kam die Frau mit dem norddeutschen Namen aus Elmshorn in den Süden. Nach zwei Jahren Vikariat in Untertürkheim wusste sie allerdings nicht, ob sie in der Kirche wirklich am richtigen Platz war, ob diese Kirche sie wirklich brauchte. So folgte sie ihren katholischen Freunden nach Lateinamerika, wo die katholische Kirche mit der Befreiungstheologie im Aufbruch war. Zunächst besuchte sie Ecuador nur für einige Wochen, aber nachdem sie Spanisch gelernt hatte, ging sie mit einem Stipendium des Lutherischen Weltbundes zur Katholischen Kirche in Ecuador. Die waren zuerst etwas erstaunt, dass ein weiblicher Pfarrer kam, aber die Zusammenarbeit hat dann gut funktioniert.

Wiebke Wähling arbeitete damals in einer Gruppe, die im Andenhochland von Dorf zu Dorf zog, um Alphabetisierungskurse zu machen. Wie sie meint: „mit der Bibel in der Hand“. Es stellten sich immer die gleichen Fragen: Wo gibt es Arbeit? Wo gibt es Wasser? Wie weit ist es zur nächsten Krankenstation? Und manchmal, wenn es gut lief, wurde in den zwei Wochen, die die Gruppe im Dorf war, eine Schule gebaut, die vom Bischof mit finanziert wurde. Wenn eine Schule vorhanden war, dann musste der Staat einen Lehrer schicken. Das waren also echte Aufbruchsgeschichten, wie Wiebke Wähling meint. Aber ihr war klar, dass sie irgendwann wieder in ihre Kirche nach Deutschland zurück musste, um dort etwas zu verändern.

Adolfo Pérez Esquivel, 2003

In Ecuador hatte Wiebke Wähling Adolfo Perez Esquivel kennengelernt, der 1980 den Friedensnobelpreis erhielt. Seine Reise führte damals auch in den Kölner Dom und Wiebke Wähling wollte ihn dort, von Stuttgart kommend, treffen. Sie setzte sich in den Dom, der so kalt war, dass das Weihwasser eingefroren war, in die erste Reihe und wartete. Und als Alfonso endlich mit den ganzen Bischöfen kam, rief er schon von weitem „Ah la Wiebke, la Wiebke“, so freute er sich sie wieder zu sehen.

Diese Arbeit in Ecuador hat Wiebke Wähling sehr geprägt und der grundlegende Gedanke der „Hilfe zur Selbsthilfe“ hat auch ihre spätere Arbeit im Hallschlag geprägt.

Aufbau einer neuen Gemeinde in Kornwestheim

Aber zunächst übernahm Wiebke Wähling 1978 eine Pfarrstelle in Kornwestheim, wo die Thomas-Gemeinde in einem Neubaugebiet aufgebaut werden musste. Es war der Versuch einer ökumenischen Gemeinde: die Kirche gehörte der katholischen und der evangelischen Gemeinde gemeinsam. Sie erinnert sich dort an eine sehr gute Zusammenarbeit der Gemeindemitglieder, insbesondere mit den jungen Familien.

Neue Herausforderungen auf dem Hallschlag

Irgendwann war Wiebke Wähling diese Gemeinde aber zu mittelschichtsorientiert, sie suchte nach neuen Herausforderungen und fand sie 1991 in der Steiggemeinde auf dem Hallschlag. Im Dekanat Cannstatt, das schon früh als frauenfreundlich galt, war sie die dritte Pfarrerin. 1978 kam Heide Kast nach Wangen, 1987 Ilse Junkermann in die Stephanusgemeinde und dann 1991 eben Wiebke Wähling in die Steiggemeinde – und das sogar als geschäftsführende Pfarrerin.

Steigkirche

In dieser Zeit waren die Amerikaner aus den Kasernen abgezogen und es stellte sich die Frage, wie diese Gebäude genutzt werden konnten. Die Stadtteilinitiative Hallschlag 2000, die von einigen Kirchengemeindemitgliedern und Sozialarbeitern der Stadt gegründet worden war, kaufte für eine D-Mark die McGee-Kaserne, in der sie dann ein Kinderhaus, ein Nachbarschaftszentrum, ein Wohnprojekt und ein Arbeitslosenprojekt aufbauten. Finanziert wurde das Ganze als genossenschaftliche GmbH. Die Initiative musste 1/5 der Summe selber aufbringen, die evangelische Gesellschaft und die Gesamtkirchengemeinde Bad Cannstatt finanzierten den Rest.

Umbau der McGee Kaserne
(Foto privat)

Der Hallschlag, der damals noch ein sozialer Brennpunkt war, profitierte sehr von diesem Stadtteilzentrum. Ein wichtiges Anliegen war damals, den Hallschlag positiv ins Bewusstsein der Stadt zu rücken, das Image zu verbessern. So hat sich in den letzten 25 Jahren dort sehr viel zum Guten entwickelt, und den Ausschlag dafür hat diese Initiative gegeben. Diese sehr intensive Arbeit auf dem Hallschlag war so erfolgreich, dass bis auf das Arbeitslosenzentrum bis heute alles noch existiert.

Fasching im Hallschlag
(Foto privat)

Das Schöne am Beruf der Pfarrerin, findet Wiebke Wähling, sind neben diesen organisatorischen Erfolgen die persönlichen Begegnungen. So hat sie heute noch Kontakt zu ehemaligen Gemeindemitgliedern, die sie vielleicht mal in einer Krisensituation begleitet hat. Ihr eilt zwar der Ruf eines „Apparatschiks“ voraus, die alles gut organisiert, aber was ihr in Erinnerung bleibt, das sind die Menschen, denen sie helfen konnte.

Vorsitzende im Finanzausschuss der Landessynode

Während sie auf dem Hallschlag so aktiv war, wurde sie in die Landessynode gewählt. Und weil Geld immer wichtig ist, wenn man etwas bewirken will, ging sie in den Finanzausschuss, wo sie ab 2001 den Vorsitz übernahm – als erste Frau überhaupt. Ihr macht es Freude, einen Haushalt zu lesen. Sie meint: „Die biblische Botschaft ist das eine, aber wir sind heute 2000 Jahre später dran und es stellt sich die Frage, wie kannst Du das heute an die Frau, an den Mann bringen, welche Mittel hast Du, um die Botschaft zu verkünden?“ Wenn andere meinen, dass ihnen die Verkündigung wichtiger sei als die Finanzen, dann entgegnet sie: „Okay Leute, ihr verkündigt auch, wenn ihr anständige Kindergärten habt, ihr verkündigt auch, wenn ihr eine ordentliche Suchthilfe habt. Wenn ihr die Finanzierung dafür sicher habt.“

Diese Arbeit in der Landesynode war natürlich zusätzliche Arbeit, die nur möglich war, weil Wiebke Wähling durch ein Team in Pfarrei und Dekanat unterstützt wurde. Dafür ist sie sehr dankbar, meint aber: „Das hab ich oft erlebt, dass das in der Pfarrerschaft richtig solidarisch zugegangen ist“.

Wahl zur Dekanin in Zuffenhausen

Johanneskirche in Zuffenhausen

2001 wurde sie zur Dekanin in Zuffenhausen gewählt, wieder ein Schritt auf der Karriereleiter, der für eine Frau nicht selbstverständlich war. Sie war erst die fünfte weibliche Dekanin in der württembergischen Landeskirche. Marianne Koch war 1984 die erste in Weikersheim, nach zehn Jahren kamen dann Gerlinde Hühn in Geislingen und Marie-Luise Kling-de Lazzer in Tübingen. 2000 wurde Elisabeth Hege Dekanin in Ditzingen und ein Jahr später Wiebke Wähling in Zuffenhausen.

Als Dekanin hatte sie die Personalverantwortung für die PfarrerInnen und das gesamte Personal von 30 Gemeinden. Bei dieser Arbeit war ihre Hauptaufgabe, die Gemeinden neu zu organisieren, Gemeinden zusammenzulegen. Mit dem Sinken der Zahl der Gemeindemitglieder muss sich die evangelische Kirche kleiner aufstellen. Es stellt sich die Frage: „Was wollen wir unbedingt in 50 Jahren noch haben, da stecken wir unser Geld rein. Was wollen wir unbedingt an Sozialarbeit haben, was wollen wir an musikalischer Arbeit haben?“ Wiebke Wähling hat mit den Gemeinden diskutiert, was nicht immer einfach war. Einige Zusammenschlüsse sind erfolgt, andere Gemeinden haben sich widersetzt. Stellenstreichungen sind nie einfach, aber in der Kirche notwendig. Denn bei den heute 20 – 30-jährigen sind nur noch 10 – 15% in einer der großen Kirchen. Es gibt niedrigere Einnahmen durch die Kirchensteuer. Verschärft wird das Problem natürlich jetzt durch die Corona-bedingte Kurzarbeit.

Sie war als Dekanin auch zuständig für die Diakonie im ganzen Kirchenkreis Stuttgart.

Vorreiterin für die Frauen in der württembergischen Landeskirche

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist taufe-neffe.jpg.
Taufe beim Neffen
(Foto privat)

Als Dekanin hat sie auch versucht Frauen zu fördern, aber sie denkt, dass nicht alle Frauen wirklich Karriere machen wollen. Viele Pfarrerinnen bevorzugten Tätigkeiten, die ihnen sofort Anerkennung bringen, wie die Besuche, die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Die Arbeit einer geschäftsführenden Pfarrerin oder gar Dekanin bringt aber nicht nur Anerkennung, sondern auch Kritik. „Wenn Sie den Haushaltsplan zusammen mit Ihrem Kirchenpfleger basteln, irgendwelche Einschnitte machen müssen und das auch noch den Menschen beibringen müssen, ist das eine Arbeit, die manche Pfarrerin sich nicht zutrauen will, obwohl sie es könnte.“

Aber sie erzählt auch, dass einige befürchten, dass es zu einer Abwertung des Pfarramtes kommt, wenn immer mehr Frauen diesen Beruf ergreifen (!).

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist mit-ehemann-reiner.jpg.
Mit Ehemann Reiner (Foto privat)

Als sie selber begann, war sie ja auf allen Posten die erste Frau, sie war immer als Frau Pionierin. Sie wurde, so sagt sie, immer von ihren männlichen Kollegen ermuntert neue Aufgaben zu übernehmen.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist kirchentag-in-dortmund.jpg.
Beim Kirchentag in Dortmund 2019
(Foto privat)

Damals hat man von den Pfarrerinnen mehr oder weniger erwartet, dass sie keine Kinder bekommen. Heiraten war OK, aber Kinder hätten gestört. Wiebke Wähling ist seit vielen Jahren mit  Reiner Stoll-Wähling verheiratet. Er ist ein friedensbewegter Zeitgenosse, der mit Cap Anamur im Balkankrieg Flüchtlingslager geleitet hat. Auch im Kosovo war er gleich nach den kriegerischen Auseinandersetzungen beim Wiederaufbau der Dörfer tätig, die von den Serben niedergebrannt und zerstört worden waren. Die Ehe blieb kinderlos.  Aber manchmal tat es weh, wenn die Pfarrer auf einer Synode voller Stolz von ihrer „prächtigen Kinderschar“ erzählten. Für die Pfarrer ist es selbstverständlich Kinder zu haben, für Pfarrerinnen ist es zumindest schwierig. Für Wiebke Wähling war es doppelt unangenehm, weil sie einerseits keine Kinder bekommen konnte, andererseits ihr der Ruf voraneilte eine Karrierefrau zu sein, die bewusst auf Kinder verzichtete. Aber als das Kinderhaus auf dem Hallschlag fertig war, hat sie bei solchen Anlässen gekontert: „Und ich hab 70 Kinder und 70 Kinder sind noch auf der Warteliste.“

Abendmahlsfeier im BHZ (Foto privat)

Im (Un-) Ruhestand

Seit 2011 ist Wiebke Wähling im Ruhestand, den sie so wie auch ihre berufliche Laufbahn sehr aktiv gestaltet. Sie ist im Vorstand des Behindertenzentrums und erzählt, dass der Umgang mit den Behinderten sie sehr bereichert. Neben den regelmäßigen Gottesdiensten mit den Behinderten ist sie mit ihnen auch auf Freizeiten gefahren. „Das war sagenhaft. Ich war mit mehrfach schwerbehinderten auf der Wartburg, zum Reformationsjubiläum. Der Umgang mit ihnen zwingt einen zu einer klaren Sprache. Da sind manchmal Phasen in Gesprächen zustande gekommen, wo das wirklich ein Miteinander war. Das hat mir sehr gut gefallen.“

Auch politisch ist Wiebke Wähling aktiv, so saß sie von 2012 bis 2014 für die SPD im Bezirksbeirat von Mühlhausen.

Ein weiterer Posten, den sie mit Freude ausfüllt, ist der als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft evangelischer Ferien- und Waldheime. Wegen Corona musste da gerade in den letzten Wochen sehr viel entschieden werden. Es stellte sich die Frage, ob die Waldheime stattfinden können. Die Kinderbetreuung wird dieses Jahr anders aussehen. Die großen Waldheime müssen teilweise auf verschiedene Orte aufgeteilt werden, was ein organisatorischer Kraftakt insbesondere auch für die Küchen darstellt. Da die Gruppen unter sich bleiben müssen, kann der gemeinsame Vormittag im Waldheim nicht stattfinden, die Betreuer werden deutlich mehr gefordert sein. Zudem können die Kinder nicht mehr mit den Bussen abgeholt werden, die Eltern müssen die Kinder fahren.

Wiebke Wähling wird die Arbeit mit den Waldheimen noch bis zum 100. Geburtstag der evangelischen Waldheime im Jahr 2021 machen.

Sie plant ein Buch über die Frauen der Diakonie zu schreiben: Von den Beginen über Margarethe Blarer in der Reformationszeit, Königin Katharina, Wilhelmine Canz, die Diakonissen, die Olgaschwestern, bis Elly Heuss-Knapp und Annemarie Griesinger. Ein interessantes Projekt.

Socken für den Stall

Zurzeit hält Wiebke Wähling in den Gemeinden Vorträge zu Themen der Diakonie, zu Frauenthemen, zu biblischen und zu sozialen Themen. Das Honorar, das sie dafür bekommt, investiert sie in Sockenwolle für das Projekt „Socken für den Stall“. Sie fragt bei den Vorträgen die Frauen, ob diese Socken stricken wollen. Die Wolle stellt sie.

Socken für den Stall
(Foto privat)

Heiligabend auf der Bescherung der eva (Evangelische Gesellschaft) gibt’s für alle Besucher eine Tüte, in der die Socken neben guten Sachen zum Essen und vielleicht einer Gutscheinkarte von dm stecken.

Letztes Jahr kamen so 780 Socken zusammen, dazu noch 100 Mützen, Schals und Handschuhe.

Das begeistert mich, ich nehme mir Wolle mit und nehme mir vor, sie bis Weihnachten zu Socken zu verarbeiten. Groß müssen sie sein, Männersocken.

Elisabeth Skrzypek

Bildnachweise