Von Befreiungstheologen, dem Hallschlag, von Finanzen, Waldheimen und den „Socken für den Stall“ – Porträt der Dekanin i.R. Wiebke Wähling

Von Wiebke Wähling hatte ich gehört, dass sie sich als Pfarrerin sehr für den Hallschlag eingesetzt hätte und auch Dekanin geworden wäre. Das machte mich neugierig auf ein Gespräch. Und ich wurde wirklich nicht enttäuscht. Wiebke Wähling hat eine Stunde lang aus ihrem Leben erzählt und ich war beeindruckt, was sie alles zu erzählen hatte.

Wiebke Wähling

Nach dem Studium Erfahrungen in Ecuador gesammelt

Wiebke Wähling studierte evangelische Theologie in Bethel und in Tübingen, so kam die Frau mit dem norddeutschen Namen aus Elmshorn in den Süden. Nach zwei Jahren Vikariat in Untertürkheim wusste sie allerdings nicht, ob sie in der Kirche wirklich am richtigen Platz war, ob diese Kirche sie wirklich brauchte. So folgte sie ihren katholischen Freunden nach Lateinamerika, wo die katholische Kirche mit der Befreiungstheologie im Aufbruch war. Zunächst besuchte sie Ecuador nur für einige Wochen, aber nachdem sie Spanisch gelernt hatte, ging sie mit einem Stipendium des Lutherischen Weltbundes zur Katholischen Kirche in Ecuador. Die waren zuerst etwas erstaunt, dass ein weiblicher Pfarrer kam, aber die Zusammenarbeit hat dann gut funktioniert.

Wiebke Wähling arbeitete damals in einer Gruppe, die im Andenhochland von Dorf zu Dorf zog, um Alphabetisierungskurse zu machen. Wie sie meint: „mit der Bibel in der Hand“. Es stellten sich immer die gleichen Fragen: Wo gibt es Arbeit? Wo gibt es Wasser? Wie weit ist es zur nächsten Krankenstation? Und manchmal, wenn es gut lief, wurde in den zwei Wochen, die die Gruppe im Dorf war, eine Schule gebaut, die vom Bischof mit finanziert wurde. Wenn eine Schule vorhanden war, dann musste der Staat einen Lehrer schicken. Das waren also echte Aufbruchsgeschichten, wie Wiebke Wähling meint. Aber ihr war klar, dass sie irgendwann wieder in ihre Kirche nach Deutschland zurück musste, um dort etwas zu verändern.

Adolfo Pérez Esquivel, 2003

In Ecuador hatte Wiebke Wähling Adolfo Perez Esquivel kennengelernt, der 1980 den Friedensnobelpreis erhielt. Seine Reise führte damals auch in den Kölner Dom und Wiebke Wähling wollte ihn dort, von Stuttgart kommend, treffen. Sie setzte sich in den Dom, der so kalt war, dass das Weihwasser eingefroren war, in die erste Reihe und wartete. Und als Alfonso endlich mit den ganzen Bischöfen kam, rief er schon von weitem „Ah la Wiebke, la Wiebke“, so freute er sich sie wieder zu sehen.

Diese Arbeit in Ecuador hat Wiebke Wähling sehr geprägt und der grundlegende Gedanke der „Hilfe zur Selbsthilfe“ hat auch ihre spätere Arbeit im Hallschlag geprägt.

Aufbau einer neuen Gemeinde in Kornwestheim

Aber zunächst übernahm Wiebke Wähling 1978 eine Pfarrstelle in Kornwestheim, wo die Thomas-Gemeinde in einem Neubaugebiet aufgebaut werden musste. Es war der Versuch einer ökumenischen Gemeinde: die Kirche gehörte der katholischen und der evangelischen Gemeinde gemeinsam. Sie erinnert sich dort an eine sehr gute Zusammenarbeit der Gemeindemitglieder, insbesondere mit den jungen Familien.

Neue Herausforderungen auf dem Hallschlag

Irgendwann war Wiebke Wähling diese Gemeinde aber zu mittelschichtsorientiert, sie suchte nach neuen Herausforderungen und fand sie 1991 in der Steiggemeinde auf dem Hallschlag. Im Dekanat Cannstatt, das schon früh als frauenfreundlich galt, war sie die dritte Pfarrerin. 1978 kam Heide Kast nach Wangen, 1987 Ilse Junkermann in die Stephanusgemeinde und dann 1991 eben Wiebke Wähling in die Steiggemeinde – und das sogar als geschäftsführende Pfarrerin.

Steigkirche

In dieser Zeit waren die Amerikaner aus den Kasernen abgezogen und es stellte sich die Frage, wie diese Gebäude genutzt werden konnten. Die Stadtteilinitiative Hallschlag 2000, die von einigen Kirchengemeindemitgliedern und Sozialarbeitern der Stadt gegründet worden war, kaufte für eine D-Mark die McGee-Kaserne, in der sie dann ein Kinderhaus, ein Nachbarschaftszentrum, ein Wohnprojekt und ein Arbeitslosenprojekt aufbauten. Finanziert wurde das Ganze als genossenschaftliche GmbH. Die Initiative musste 1/5 der Summe selber aufbringen, die evangelische Gesellschaft und die Gesamtkirchengemeinde Bad Cannstatt finanzierten den Rest.

Umbau der McGee Kaserne
(Foto privat)

Der Hallschlag, der damals noch ein sozialer Brennpunkt war, profitierte sehr von diesem Stadtteilzentrum. Ein wichtiges Anliegen war damals, den Hallschlag positiv ins Bewusstsein der Stadt zu rücken, das Image zu verbessern. So hat sich in den letzten 25 Jahren dort sehr viel zum Guten entwickelt, und den Ausschlag dafür hat diese Initiative gegeben. Diese sehr intensive Arbeit auf dem Hallschlag war so erfolgreich, dass bis auf das Arbeitslosenzentrum bis heute alles noch existiert.

Fasching im Hallschlag
(Foto privat)

Das Schöne am Beruf der Pfarrerin, findet Wiebke Wähling, sind neben diesen organisatorischen Erfolgen die persönlichen Begegnungen. So hat sie heute noch Kontakt zu ehemaligen Gemeindemitgliedern, die sie vielleicht mal in einer Krisensituation begleitet hat. Ihr eilt zwar der Ruf eines „Apparatschiks“ voraus, die alles gut organisiert, aber was ihr in Erinnerung bleibt, das sind die Menschen, denen sie helfen konnte.

Vorsitzende im Finanzausschuss der Landessynode

Während sie auf dem Hallschlag so aktiv war, wurde sie in die Landessynode gewählt. Und weil Geld immer wichtig ist, wenn man etwas bewirken will, ging sie in den Finanzausschuss, wo sie ab 2001 den Vorsitz übernahm – als erste Frau überhaupt. Ihr macht es Freude, einen Haushalt zu lesen. Sie meint: „Die biblische Botschaft ist das eine, aber wir sind heute 2000 Jahre später dran und es stellt sich die Frage, wie kannst Du das heute an die Frau, an den Mann bringen, welche Mittel hast Du, um die Botschaft zu verkünden?“ Wenn andere meinen, dass ihnen die Verkündigung wichtiger sei als die Finanzen, dann entgegnet sie: „Okay Leute, ihr verkündigt auch, wenn ihr anständige Kindergärten habt, ihr verkündigt auch, wenn ihr eine ordentliche Suchthilfe habt. Wenn ihr die Finanzierung dafür sicher habt.“

Diese Arbeit in der Landesynode war natürlich zusätzliche Arbeit, die nur möglich war, weil Wiebke Wähling durch ein Team in Pfarrei und Dekanat unterstützt wurde. Dafür ist sie sehr dankbar, meint aber: „Das hab ich oft erlebt, dass das in der Pfarrerschaft richtig solidarisch zugegangen ist“.

Wahl zur Dekanin in Zuffenhausen

Johanneskirche in Zuffenhausen

2001 wurde sie zur Dekanin in Zuffenhausen gewählt, wieder ein Schritt auf der Karriereleiter, der für eine Frau nicht selbstverständlich war. Sie war erst die fünfte weibliche Dekanin in der württembergischen Landeskirche. Marianne Koch war 1984 die erste in Weikersheim, nach zehn Jahren kamen dann Gerlinde Hühn in Geislingen und Marie-Luise Kling-de Lazzer in Tübingen. 2000 wurde Elisabeth Hege Dekanin in Ditzingen und ein Jahr später Wiebke Wähling in Zuffenhausen.

Als Dekanin hatte sie die Personalverantwortung für die PfarrerInnen und das gesamte Personal von 30 Gemeinden. Bei dieser Arbeit war ihre Hauptaufgabe, die Gemeinden neu zu organisieren, Gemeinden zusammenzulegen. Mit dem Sinken der Zahl der Gemeindemitglieder muss sich die evangelische Kirche kleiner aufstellen. Es stellt sich die Frage: „Was wollen wir unbedingt in 50 Jahren noch haben, da stecken wir unser Geld rein. Was wollen wir unbedingt an Sozialarbeit haben, was wollen wir an musikalischer Arbeit haben?“ Wiebke Wähling hat mit den Gemeinden diskutiert, was nicht immer einfach war. Einige Zusammenschlüsse sind erfolgt, andere Gemeinden haben sich widersetzt. Stellenstreichungen sind nie einfach, aber in der Kirche notwendig. Denn bei den heute 20 – 30-jährigen sind nur noch 10 – 15% in einer der großen Kirchen. Es gibt niedrigere Einnahmen durch die Kirchensteuer. Verschärft wird das Problem natürlich jetzt durch die Corona-bedingte Kurzarbeit.

Sie war als Dekanin auch zuständig für die Diakonie im ganzen Kirchenkreis Stuttgart.

Vorreiterin für die Frauen in der württembergischen Landeskirche

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist taufe-neffe.jpg.
Taufe beim Neffen
(Foto privat)

Als Dekanin hat sie auch versucht Frauen zu fördern, aber sie denkt, dass nicht alle Frauen wirklich Karriere machen wollen. Viele Pfarrerinnen bevorzugten Tätigkeiten, die ihnen sofort Anerkennung bringen, wie die Besuche, die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Die Arbeit einer geschäftsführenden Pfarrerin oder gar Dekanin bringt aber nicht nur Anerkennung, sondern auch Kritik. „Wenn Sie den Haushaltsplan zusammen mit Ihrem Kirchenpfleger basteln, irgendwelche Einschnitte machen müssen und das auch noch den Menschen beibringen müssen, ist das eine Arbeit, die manche Pfarrerin sich nicht zutrauen will, obwohl sie es könnte.“

Aber sie erzählt auch, dass einige befürchten, dass es zu einer Abwertung des Pfarramtes kommt, wenn immer mehr Frauen diesen Beruf ergreifen (!).

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist mit-ehemann-reiner.jpg.
Mit Ehemann Reiner (Foto privat)

Als sie selber begann, war sie ja auf allen Posten die erste Frau, sie war immer als Frau Pionierin. Sie wurde, so sagt sie, immer von ihren männlichen Kollegen ermuntert neue Aufgaben zu übernehmen.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist kirchentag-in-dortmund.jpg.
Beim Kirchentag in Dortmund 2019
(Foto privat)

Damals hat man von den Pfarrerinnen mehr oder weniger erwartet, dass sie keine Kinder bekommen. Heiraten war OK, aber Kinder hätten gestört. Wiebke Wähling ist seit vielen Jahren mit  Reiner Stoll-Wähling verheiratet. Er ist ein friedensbewegter Zeitgenosse, der mit Cap Anamur im Balkankrieg Flüchtlingslager geleitet hat. Auch im Kosovo war er gleich nach den kriegerischen Auseinandersetzungen beim Wiederaufbau der Dörfer tätig, die von den Serben niedergebrannt und zerstört worden waren. Die Ehe blieb kinderlos.  Aber manchmal tat es weh, wenn die Pfarrer auf einer Synode voller Stolz von ihrer „prächtigen Kinderschar“ erzählten. Für die Pfarrer ist es selbstverständlich Kinder zu haben, für Pfarrerinnen ist es zumindest schwierig. Für Wiebke Wähling war es doppelt unangenehm, weil sie einerseits keine Kinder bekommen konnte, andererseits ihr der Ruf voraneilte eine Karrierefrau zu sein, die bewusst auf Kinder verzichtete. Aber als das Kinderhaus auf dem Hallschlag fertig war, hat sie bei solchen Anlässen gekontert: „Und ich hab 70 Kinder und 70 Kinder sind noch auf der Warteliste.“

Abendmahlsfeier im BHZ (Foto privat)

Im (Un-) Ruhestand

Seit 2011 ist Wiebke Wähling im Ruhestand, den sie so wie auch ihre berufliche Laufbahn sehr aktiv gestaltet. Sie ist im Vorstand des Behindertenzentrums und erzählt, dass der Umgang mit den Behinderten sie sehr bereichert. Neben den regelmäßigen Gottesdiensten mit den Behinderten ist sie mit ihnen auch auf Freizeiten gefahren. „Das war sagenhaft. Ich war mit mehrfach schwerbehinderten auf der Wartburg, zum Reformationsjubiläum. Der Umgang mit ihnen zwingt einen zu einer klaren Sprache. Da sind manchmal Phasen in Gesprächen zustande gekommen, wo das wirklich ein Miteinander war. Das hat mir sehr gut gefallen.“

Auch politisch ist Wiebke Wähling aktiv, so saß sie von 2012 bis 2014 für die SPD im Bezirksbeirat von Mühlhausen.

Ein weiterer Posten, den sie mit Freude ausfüllt, ist der als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft evangelischer Ferien- und Waldheime. Wegen Corona musste da gerade in den letzten Wochen sehr viel entschieden werden. Es stellte sich die Frage, ob die Waldheime stattfinden können. Die Kinderbetreuung wird dieses Jahr anders aussehen. Die großen Waldheime müssen teilweise auf verschiedene Orte aufgeteilt werden, was ein organisatorischer Kraftakt insbesondere auch für die Küchen darstellt. Da die Gruppen unter sich bleiben müssen, kann der gemeinsame Vormittag im Waldheim nicht stattfinden, die Betreuer werden deutlich mehr gefordert sein. Zudem können die Kinder nicht mehr mit den Bussen abgeholt werden, die Eltern müssen die Kinder fahren.

Wiebke Wähling wird die Arbeit mit den Waldheimen noch bis zum 100. Geburtstag der evangelischen Waldheime im Jahr 2021 machen.

Sie plant ein Buch über die Frauen der Diakonie zu schreiben: Von den Beginen über Margarethe Blarer in der Reformationszeit, Königin Katharina, Wilhelmine Canz, die Diakonissen, die Olgaschwestern, bis Elly Heuss-Knapp und Annemarie Griesinger. Ein interessantes Projekt.

Socken für den Stall

Zurzeit hält Wiebke Wähling in den Gemeinden Vorträge zu Themen der Diakonie, zu Frauenthemen, zu biblischen und zu sozialen Themen. Das Honorar, das sie dafür bekommt, investiert sie in Sockenwolle für das Projekt „Socken für den Stall“. Sie fragt bei den Vorträgen die Frauen, ob diese Socken stricken wollen. Die Wolle stellt sie.

Socken für den Stall
(Foto privat)

Heiligabend auf der Bescherung der eva (Evangelische Gesellschaft) gibt’s für alle Besucher eine Tüte, in der die Socken neben guten Sachen zum Essen und vielleicht einer Gutscheinkarte von dm stecken.

Letztes Jahr kamen so 780 Socken zusammen, dazu noch 100 Mützen, Schals und Handschuhe.

Das begeistert mich, ich nehme mir Wolle mit und nehme mir vor, sie bis Weihnachten zu Socken zu verarbeiten. Groß müssen sie sein, Männersocken.

Elisabeth Skrzypek

Bildnachweise