Lenore Volz, die erste Cannstatter Pfarrerin

Mittlerweile kennen doch einige in Bad Cannstatt den Namen von Lenore Volz. Aber wer diese Frau war, woher sie kam, wissen vielleicht nicht alle.

Cannstatt ist schon eine sehr alte christliche Gemeinde. Bereits im 8. Jahrhundert kamen die fränkischen Herrscher, vertrieben die Alemannen im berühmten Cannstatter Blutgericht und errichteten die ersten drei Kirchen. Das waren die Martinskirche (damals auf der Altenburg), die Uff-Kirche und insbesondere die Stadtkirche. Im 15. Jahrhundert erhielt die Stadtkirche durch den Baumeister Alberlin Jörg in etwa das heutige Aussehen, bis auf den oberen Teil des Turms. Anfang des 16. Jahrhunderts wurde die Reformation eingeführt und seitdem gab es fast durchweg männliche Pfarrer, mit drei Ausnahmen: Frau Giera besetzte eine Zeitlang die dritte Pfarrstelle, Franziska Link war von 2008 bis 2016 Pfarrerin an der Stadtkirche und während des Zweiten Weltkriegs hat Lenore Volz u.a. an der Stadtkirche Pfarrdienste versehen. Sozusagen aus der Not heraus.

Wer war Lenore Volz?

Lenore Volz

Lenore wurde am 16. März 1913 als jüngstes von drei Kindern in Waiblingen geboren, ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Ihr Vater Hugo Volz war Vorstand des Finanzamtes Waiblingen, stammte aber aus einer Familie von Pfarrern, die den sechsten evangelischen Abt des Klosters Maulbronn in ihrer Ahnenreihe haben. Ihr Vater wurde auch in Maulbronn geboren. Lenore Volz hatte zwei deutlich ältere Geschwister, ihr Bruder starb bereits im Kindesalter. Als ihr Vater 1921 die Leitung des Finanzamtes in Esslingen übernahm, übersiedelte die Familie nach Esslingen.

In der Familie war immer viel Trubel. Ihre Mutter Amalie Volz war eine sehr umtriebige und kontaktfreudige Person, deren Ahnenlinie auf Johannes Brenz, den bekannten württembergischen Reformator, zurück geht. Amalie Volz war die Gründerin der ersten evangelischen Mütterschule in Esslingen. Lenore Volz kann also eine stolze Ahnentafel vorweisen.

Bereits nach der Konfirmation beschloss Lenore Theologie zu studieren, ein Studienwunsch, den zwar ihre Eltern unterstützen, den aber die Gesellschaft kritisch sah. Da sie in Esslingen als Mädchen kein Abitur machen konnte, wechselte sie nach dem Abschluss der Esslinger Mädchenschule ans Königin-Katharina-Stift in Stuttgart. Nach ihrem Abitur lernte sie zunächst Latein und Griechisch, bevor sie 1933 als eine von zwölf Frauen ihr Theologiestudium in Tübingen begann. Hebräisch lernte sie während der Semesterferien. Allerdings hatte man ihr bereits von Beginn an gesagt, dass sie nicht mit einer Anstellung als Pfarrerin wird rechnen können.

1933 nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war zunächst gar nicht klar gewesen, ob die Frauen an der Tübinger Universität überhaupt weiter studieren durften. Aber sie durften – und Lenore stürzte sich ins Studium. 1934 übernahm sie zudem die Leitung der Deutschen Christlichen Studentinnenbewegung DCSB.

Sie solle lieber Maschinenschreiben lernen

Nach einem Auswärtssemester in Greifswald schloss sie ihr Studium 1939 erfolgreich ab, erhielt aber zunächst – wie vorhergesagt – keine Anstellung als Theologin. Man legte ihr nahe, sie solle doch ihr Orgelspiel ausbauen, dann könnte sie als Organistin arbeiten. Oder aber sie könne auch Maschinenschreiben lernen, dann könne sie als Sekretärin ihren Lebensunterhalt verdienen!

Aber mit dem Kriegsausbruch änderte sich alles. Viele Pfarrer wurden eingezogen und viele Stellen wurden frei. Lenore Volz erhielt eine Praktikantenstelle in Münsingen. Dort bestand ihre Hauptaufgabe darin, Kirchenbuchauszüge für die Ariernachweise zu erstellen, die nun überall gefordert wurden. Daneben hat sie aber immerhin auch den Bibelkreis im Nachbarort geleitet. Zudem durfte sie Kindergottesdienste abhalten und die Konfirmationsvorbereitung machen – allerdings nur für die Mädchen.

Im April 1940 kam sie nach Bad Cannstatt: sie erhielt eine Anstellung als Pfarrgehilfin im Dekanat mit einem Gehalt von 120 RM, hinzu kam noch das Wohngeld, von dem sie 32 RM für ein möbliertes Zimmer bezahlen musste.

Stadtkirche Bad Cannstatt (privat)

Zu dem Zeitpunkt waren auch in Bad Cannstatt die Hälfte aller Pfarrer zur Wehrmacht eingezogen worden und man hatte zunächst versucht, den Gottesdienstbetrieb mit männlichen Laien aufrecht zu erhalten. Erst als das misslang, erinnerte man sich an die ausgebildeten Theologinnen. Frauen durften damals nicht vor der Gemeinde predigen, sie durften keine Trauungen, keine Taufen und erst recht keine Beerdigungen abhalten. Und auch das Abendmahl durften sie bis dahin nicht reichen. Erst 1942, als der Pfarrermangel immer größer wurde, wurden Frauen auch als Pfarrerinnen mit Predigterlaubnis eingesetzt.

Bevor Lenore Volz in Cannstatt Pfarrdienste versehen durfte, musste allerdings der Kirchengemeinderat befragt werden. Der zögerte zunächst. Erst nach einem Schreiben des Prälaten, der ihnen wahrscheinlich versicherte, dass sie wirklich keinen männlichen Kandidaten bekommen konnten, erklärten sich die Cannstatter bereit und Lenore konnte ihren Dienst antreten.

Talar nicht vorgesehen

Es stellte sich die Frage, was Lenore Volz bei ihrer Tätigkeit als Pfarrerin tragen sollte. Ein Talar war zunächst nicht vorgesehen. So besuchte sie in einem schwarzen wollenen Schwesternkleid die Gemeinden, die sie so aber nicht alle als Pfarrerin akzeptierten. Einmal, so erzählt sie, kam sie in eine Gemeinde, die sie noch nicht kannten. Anscheinend war im Vorfeld auch nicht davor gewarnt worden, dass eine Frau kam. Als sie in ihrem wollenen Kleid die Kanzel betrat, erstarb der vorgehende Gesang so nach und nach. Sowohl der Organist als auch die Gemeinde waren so erstaunt, dort eine Frau zu sehen, dass sie darüber die Musik vergaßen.

Auch aufgrund solcher Erlebnisse konnte Lenore Volz Dekan und Prälat überzeugen, dass auch sie einen Talar benötigte. Sie besorgte sich einen von einem gefallenen Pfarrer. Allerdings durfte sie das weiße „Beffchen“ nicht tragen, das galt als zu männlich. Dies „Beffchen“ war ursprünglich ein Bartschoner. Dabei sollte der Talar vor dem Bart geschont werden. Insofern benötigte Lenore Volz es auch nicht.

Lenore Volz war in vielen Gemeinden im Dekanat unterwegs, auch bis Steinhaldenfeld. Sie war mit dem Fahrrad und später mit dem Motorrad unterwegs und hielt an die 20 Gottesdienste im Monat. Dazu kamen während der Woche Kriegsgebetsstunden und Bibelstunden. Fliegeralarm und Luftangriffe erschwerten ihre Arbeit.

Nach Kriegsende entzog der Oberkirchenrat den Frauen wieder die Predigterlaubnis. Allerdings baten einige Dekanate – so auch Bad Cannstatt – um eine Sondererlaubnis, die es den Frauen weiterhin zu predigen erlaubte. So konnte auch Lenore Volz weiterhin Gottesdienste abhalten.

Nebenbei absolvierte Lenore Volz eine psychologische Ausbildung.

Kampf für Zulassung der Frauen im Pfarramt

Lenore Volz setzte sich ihr Leben lang und verstärkt nach dem Krieg für die Zulassung von Frauen zum Pfarramt ein. So wurde sie folgerichtig 1965 von den württembergischen Theologinnen als Nachfolgerin von Else Breuning zur Vorsitzenden des Theologinnenkonvents gewählt. Es war ein sehr langer Kampf der Frauen um das Pfarramt, der erst mit dem Theologinnengesetz von 1968 gewonnen wurde. 1970 wurde die erste Frau – abgesehen von den Kriegszeiten – Gemeindepfarrerin.

Lenore Volz beschloss, dass sie mit nunmehr 57 Jahren nicht mehr eine Gemeinde übernehmen wollte und bewarb sich 1970 um das erste Krankenhauspfarramt in Bad Cannstatt, wo sie bis zu ihrem Ruhestand arbeitete.

Grabstein von Lenore Volz (privat)

Ihren Lebensabend beschloss sie im Augustinum. Sie starb am 26. September 2009, ihr Grab befindet sich auf dem Uff-Kirchhof. Sie hatte gewünscht im Talar bestattet zu werden.

Wenn man den Lebenslauf dieser so engagierten Frau und Pfarrerin betrachtet, erscheint es nur als folgerichtig, dass seit dem 1. Januar 2019 der Zusammenschluss von vier Cannstatter Gemeinden ihren Namen trägt: Lenore-Volz Gemeinde.

Elisabeth Skrzypek

Literatur

  • Helga Müller: Lenore Volz: „S’isch reach gwäe.“ Die Wiege für die Frau im Talar stand in Bad Cannstatt, in: Pro Alt-Cannstatt (Hg.): „Und die Frauen?“ Cannstatter Frauengeschichte(n) aus zehn Jahrhunderten, Ludwigsburg 2021, S. 262 – 271
  • Michelfelder, Barbara (1999): Lenore Volz. In: Stadt Esslingen, Stadtmuseum, Frauenbeauftragte, Volkshochschule (Hg.): WeiblichES. Frauengeschichte gesucht und entdeckt. Esslingen, S. 178–186 (Porträtfoto)
  • Lenore Volz (1994): Talar nicht vorgesehen. Pfarrerin der ersten Stunde, Stuttgart.
  • Website der Lenore-Volz-Gemeinde