Das Anna-Herrigel-Haus

Das Anna-Herrigel-Haus in der Wildbader Straße fällt auf. Seit der Renovierung haben die Fenster bunte Rahmen und auf der Hauswand prangt die Hausnummer 16. Schaut man auf das Schild, dann fällt eine weitere Besonderheit auf: Dies Haus ist ein Studentinnen-Heim! Nur für junge Frauen! Wie kann das sein?

Es lohnt sich, einen Blick in die Geschichte des Hauses zu werfen.

Das Haus der Familie Jacobi

Das Haus, das früher auf diesem Grundstück stand (damals Uhlandstraße 16), wurde um 1885 gebaut und gehörte Leonhard Jacobi. Dieser war der Sohn des Mathematikers Carl Gustav Jacob Jacobi und der älteste Bruder der Übersetzerin Margarethe Jacobi. Leonhard Jacobi hatte dieses Haus für seine Mutter Marie und seine Schwestern Margarethe, Susanne und Gertrud gekauft. Alle drei Schwestern waren unverheiratet und mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Susanne Jacobi war als Zeichenlehrerin an der Höheren Töchterschule in Cannstatt angestellt. Margarethe arbeitete sehr erfolgreich als Übersetzerin aus dem Englischen ins Deutsche und brachte so die Klassiker Onkel Toms Hütte, Tom Sawyer und Sherlock Holmes nach Deutschland.
Diese vier Frauen bewohnten das Erdgeschoss und vermieteten die erste und die zweite Etage, um so ihren Lebensunterhalt mitzufinanzieren.
(Näheres über diese Familie im Text über Margarethe Jacobi)

Das Haus ging als Erbe an den Württembergischen Lehrerinnenverein

1891 übertrug Leonhard Jacobi den Besitz auf die Mutter Marie, nach deren Tod ging das Haus an die Töchter. Als Margarethe 1910 als letzte der Frauen starb, gab es keine direkten Erben.
Margarethe Jacobi vermachte das Haus dem Württembergischen Lehrerinnenverein, der 1890 von Sofie Reis und Mathilde Planck gegründet worden war. Margarethe schrieb in ihrem Testament:

„Mein Haus nebst Garten in Cannstatt in der Uhlandstraße 16 soll der Württembergische Lehrerinnenverein erben. Die Parterre-Etage soll als Erholungsheim und Versammlungslokal dienen, der Dachstock zum Logieren, hauptsächlich von Lehrerinnen. Aus den jeweiligen Lehrerinnen der Höheren Töchterschule zu Cannstatt soll ein Komitee gebildet werden, das über alle praktischen Fragen entscheidet. Die Steuern und alle aus der Erhaltung von Haus und Garten erwachsenden Kosten sollen aus dem Ertrag des Dachstocks und dem Mietzins der Belletage bestritten werden, die wie bisher an eine Familie vermietet werden kann. Was von der Einrichtung des Hauses, das den Namen Jacobi-Heim erhalten soll, zur Ausstattung und zum Schmuck der Zimmer dienen kann, soll der Verein behalten … Aus der Bibliothek soll das Komitee alles für das Jacobi-Heim Passende auswählen, und das übrige der Cannstatter Volksbibliothek als mein Vermächtnis zusenden.“

Das Haus wurde nun also im Sinne von Margarethe Jacobi als Wohnheim für Lehrerinnen genutzt, die in Deutschland bis 1951 unverheiratet sein mussten, in Baden-Württemberg galt der Lehrerinnenzölibat sogar bis 1956.
Das ganze Haus wurde daher 1912 in kleine Wohnungen aufgeteilt, die an Lehrerinnen oder ehemalige Lehrerinnen vermietet wurden.

Verwaltet wurde das Haus bis 1932 von Fräulein Frobenius, die als Zeichenlehrerin Susanne Jacobi an der Höheren Töchterschule abgelöst hatte. 1932 übernahm die baltische Musiklehrerin Frau Seewald diese Aufgabe. Die Oberlehrerin Maria Leimenstoll, die Zweite Vorsitzende des Württembergischen Lehrerinnenvereins Cannstatt, übernahm die verantwortliche Leitung der Heimangelegenheiten.

In dem Haus wohnten 1932 neun zahlende Mieterinnen und zwei nichtzahlende. Das waren Fräulein Frobenius und Frau Seewald. Die zahlenden waren zumeist ehemalige Lehrerinnen, die für die Wohnungen zwischen 25 und 45 Mark pro Monat zahlten.
Bis 1923 gab es auch einen „Kosttisch“ für die älteren und die in Cannstatt tätigen Lehrerinnen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurde der Lehrerinnenverein gleichgeschaltet und musste das Haus an die Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg übertragen.

Zerstörung und Wiederaufbau

Beim Bombenangriff 1943 wurde das Haus vollständig zerstört. Die Bewohnerinnen überlebten zwar im Luftschutzkeller, aber bei dem anschließenden Feuer brannte alles nieder und sie verloren ihr Hab und Gut, einschließlich der Erinnerungsstücke an die Familie Jacobi.

1948 wurden die letzten einsturzgefährdeten Mauerreste abgerissen und der Württembergische Lehrerinnenverein bemühte sich um das Grundstück, um dort wieder ein Heim für Lehrerinnen zu bauen. Und hier kommt nun Anna Herrigel ins Spiel.

Die Lehrerin Anna Herrigel setzt sich für den Wiederaufbau ein

Faberstraße in Gaisburg

Anna Herrigel wurde 1886 in Calw als Tochter eines Lehrers geboren und arbeitete als Handarbeitslehrerin in Gaisburg, zunächst auch in Cannstatt. Sie wohnte zusammen mit ihren Eltern in der Faberstraße in Gaisburg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg saß Anna Herrigel von 1946 bis 1948 für die CDU im Stuttgarter Gemeinderat. In dieser Zeit kämpfte sie zunächst vehement für den Wiederaufbau des Hauses ihrer Familie in Gaisburg, sodass sie 1949 wieder einziehen konnte.

Da Anna Herrigel Mitglied des Württembergischen Lehrerinnenvereins in Stuttgart war, setzte sie sich anschließend für den Neubau des Lehrerinnen-Heims in der Wildbader Straße ein. Das Haus wurde dann tatsächlich 1954 eröffnet und erhielt nach ihrem Tod 1955 den Namen Anna-Herrigel-Haus – in Anerkennung ihres Engagements für das Heim.

Erinnerungen von Waltraud an das Lehrerinnenheim

Das Anna-Herrigel-Haus hatte kleine Wohnungen. Waltraud, die in den 1970er Jahren dort wohnte, erzählt, dass es eigentlich keine wirklichen Wohnungen waren. Gemeinschaftsküche, Bad und Toilette für fünf Wohnungen pro Etage waren auf dem Flur. Im Eingangsbereich der einzelnen Apartments gab es einen Einbauschrank für Küchensachen und ein Waschbecken. Ins Zimmer selber passten ein Schreibtisch, ein kleiner Esstisch und ein paar Sessel. Das Bett war durch einen Vorhang abgetrennt.

Einige der Apartments hatten auch einen Balkon. Das Zimmer von Waltraud hatte keinen, aber sie hatte einen schönen Blick in den wunderbaren Garten.

Telefon gab es nicht auf dem Zimmer, sondern nur eines für alle Bewohnerinnen am Kellerabgang. Wenn es klingelte, hörten das alle im Haus und jede überlegte, ob es vielleicht für sie sein könnte, ob sich ein Spurt nach unten lohnt.

Die Gemeinschaftsräume wurden von den Vermietern gereinigt, für die Zimmer war natürlich jede Frau selber zuständig.

Auf ihrem Stock war Waltraud damals die Jüngste. Im Haus wohnten noch einige ältere (ehemalige) Lehrerinnen. Einige Bewohnerinnen hatten auch zwei Zimmer. Die Wohnungen wurden damals nach ihrer Erinnerung vom Württembergischen Lehrerinnenverein vermietet.

Für Waltraud war dieses kleine – aus heutiger Sicht spartanische – Apartment genau richtig. Sie meint, sie sei damals noch „studentisch“ eingestellt gewesen, hatte vorher schon in einer WG gelebt. Nun kam ihr, als sie nach Stuttgart wechselte, das Wohnen im Anna-Herrigel-Haus sehr zupass. Das Apartment war zudem so preiswert, dass sie es behalten konnte, selbst als sie für ein Jahr nach Frankreich ging. „Mich hats noch raus gezogen und ich wollte mich gar nicht so etablieren.“
Nach ihrem Jahr in Frankreich arbeitete sie dann aber noch viele Jahre als Lehrerin an der Martin-Luther-Schule.
Nach etwa sieben Jahren zog Waltraud aus dem Anna-Herrigel-Haus aus: in eine „richtige“ Wohnung, die direkt gegenüber am Kurpark lag.

Übergabe an das Studierendenwerk – als Studentinnenheim

Da es keinen Bedarf an preiswertem Wohnraum für unverheiratete Lehrerinnen mehr gab, übergab der Lehrerinnenverein das Haus Mitte der 2000er Jahre an das Studierendenwerk Stuttgart, allerdings unter zwei Bedingungen: Zum einen durften die Lehrerinnen, die damals noch im Haus wohnten, auf Lebenszeit im Haus wohnen bleiben. Zum anderen sollte das Haus ausschließlich an Studentinnen vermietet werden. Das erklärt, warum bis heute in dem Haus nur Studentinnen wohnen.

Das Haus wurde 2018 grundlegend saniert und beherbergt seitdem 29 Einzelzimmer.

Heute erinnert im Haus eine Gedenktafel an die Geschichte des Hauses.

Literatur

  • Jacqueline Meintzinger: Die Übersetzerin Margarethe Jacobi, in: The Baker Street Chronicle, Nr. 50, 2023, S.26 – 35
  • Trümmerfrauen der Kommunalpolitik. Frauen im Stuttgarter Gemeinderat 1945 bis 1960, hg. vom Stadtarchiv Stuttgart, Stuttgart 2013, Anna Herrigel S. 25

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Bildnachweise

  • Die Bilder sind alle privat