Wer wohnte eigentlich in der Wildbader Straße 14?

Neben dem Kurpark soll ein großer Gebäudekomplex errichtet werden

Direkt am Kurpark, Ecke Wildbader Straße/Kreuznacher Straße, soll ein großer Gebäudekomplex mit 27 Wohnungen samt Tiefgarage gebaut werden. Dafür muss ein alter Garten aufgegeben und das Haus Wildbader Straße 14 abgerissen werden. Dagegen wehren sich die Bewohner des Kursaalviertels. Sie befürchten, dass solche großen Gebäudekomplexe auch an anderen Standorten im Kursaalviertel alte Häuser ersetzen werden.

Mich interessiert, wer früher in der Wildbader Straße 14 gewohnt hat. So hab ich mir mal wieder alte Karten und Adressbücher im Stadtarchiv angeschaut.

Der Garten ist 150 Jahre alt

Bereits auf der Karte von 1874 finde ich erstmals das Haus an diesem Platz. Schon damals hatte das Haus einen großen Garten, der die gesamte Ecke einnahm. In diesem Garten, in dem vor kurzem schon die alten Bäume abgeholzt wurden, habe ich auf allen folgenden Karten kein Haus gefunden. Der Garten ist also 150 Jahre alt.
Auf der anderen Seite grenzt das Haus an das Anna-Herrigel-Haus, das früher den Jacobi-Schwestern und dann dem Lehrerinnenverein gehörte.

Wer waren die Besitzer von Haus Nummer 14 in der heutigen Wildbader Straße, die bis 1937 Uhlandstraße hieß?

Zunächst gehörte es der Gutsbesitzers Witwe Ida von Mend und anschließend der Familie des Grafen von Üxküll-Gyllenband. Ein illustrer Name, der in der württembergischen Geschichte immer wieder auftaucht.

30 Jahre lang war das Haus im Besitz der Familie Üxküll-Gyllenband

Graf Eduard von Üxküll-Gyllenband war der Sohn von Kuno von Üxküll-Gyllenband, einem Königlichen Oberförster, der zusammen mit seiner Frau Fanny hier in Cannstatt in der heutigen König-Karl-Straße seinen Lebensabend verbrachte. Neben Eduard hatte er noch einen zweiten Sohn Alfred, der Bergwissenschaften studiert hatte und dann nach Brasilien gegangen war.
Eduard wohnte von Beginn an in der heutigen Wildbader Straße 14, zunächst allerdings in Miete. Ab 1891 wird er in den alten Adressbüchern als Besitzer genannt und ab 1900 wird Gräfin Emilie von Üxküll-Gyllenband, Ingenieurs Witwe, als Besitzerin genannt. Eduard, von Beruf offensichtlich Ingenieur, war 1899 mit 53 Jahren gestorben. Nun war das Haus im Besitz von Emilie.

Ab 1914 übernahm Friedrich von Üxküll-Gyllenband das Haus, höchstwahrscheinlich der Sohn. Er war Leutnant und später Major im Dragonerregiment des Königs und hatte vorher in der Badstraße 35, im früheren Hotel Herrmann, gewohnt. Da, wo heute das Rotkreuz-Krankenhaus steht. Ob es weitere Kinder gab, weiß ich nicht. Ob Friedrich selber Kinder hatte, weiß ich auch nicht.

Er verkaufte auf heden Fall das Haus in der Wildbader Straße 14 an Emil Bregenzer, der ab 1922 als Besitzer genannt wird.

Was mich nun aber zunächst sehr interessierte, das war der Name Üxküll-Gyllenband. Denn über diesen Namen bin ich immer wieder gestolpert. Ein altes Adelsgeschlecht aus dem Baltikum – einige Namensangehörige haben sich in Württemberg niedergelassen. Die Schreibweise variiert immer wieder, manchmal werden sie auch Uxkull-Gyllenband geschrieben.

Frauen aus der Familie der Üxküll-Gyllenbands

Ich möchte nun einige Frauen aus dieser Familie vorstellen.

Theobald Kerner

Zunächst einmal Marie-Luise von Üxküll-Gyllenband, die ebenfalls in Cannstatt gelebt hatte. Sie wurde 1811 in Stuttgart geboren, heiratete den Mediziner und Dichter Theobald Kerner und starb 1862 in Cannstatt.

Liebesheirat mit Theobald Kerner

Hinter diesen Daten verbirgt sich eine etwas skandalträchtige, aber auch romantische Geschichte. Theobald Kerner lernte Marie-Luise in der Praxis seines Vaters Justinus Kerner, ebenfalls Mediziner und Dichter, als Patientin kennen und lieben. Aber: Die sechs Jahre ältere Marie-Luise war bereits mit dem Rittmeister Ernst Albert von Hügel verheiratet. Sie trennte sich von diesem und fand zunächst Unterschlupf im Pfarrhaus bei Eduard Mörike. 1843 wurde die Ehe mit Hügel geschieden und Theobald Kerner heiratete gegen den Wunsch seines Vaters Marie-Luise, mit der er dann drei Kinder hatte. Theobald Kerner war aktiv an der Revolution 1848 beteiligt und musste deswegen auch auf dem Hohenasperg eine Haftstrafe absitzen. 1851 kehrte er zu seiner Familie zurück und arbeitete in Folge als Arzt. Zunächst gründete er in Stuttgart eine galvano-magnetische Heilanstalt, die er 1856 nach Cannstatt in die Badstraße gegenüber vom Hotel Herrmann verlegte. Nach dem Tod seiner Frau Marie-Luise übernahm er 1862 die Praxis seines Vaters in Weinsberg.

Die Palastdame Olga von Üxküll-Gyllenband

Am Hof des letzten württembergischen Königs Wilhelm II und seiner Frau Charlotte lebte die Palastdame Olga von Üxküll-Gyllenband (1852 – 1935). Diese heiratete nie, sondern übernahm 1878 die Erziehung der Kinder ihres Bruders Alfred Richard August, nachdem er und auch seine Frau schon früh gestorben waren.

Alexandrine war Oberin der Rotkreuzschwestern

Alexandrine, die zweitälteste Tochter von Alfred, war 1873 geboren und hatte sich als Krankenschwester bei den Olgaschwestern in Stuttgart ausbilden lassen. Nach weiterer Ausbildung unter anderem in Hamburg, Paris und München wurde sie Oberschwester in Wiesbaden und dann 1908 Oberin der Rotkreuz-Schwestern. Zusammen mit Elsa Brandström durfte sie während des Ersten Weltkriegs die deutschen Kriegsgefangenen in Russland besuchen. Dafür wurde sie 1920 mit der Florence-Nightingale-Medaille ausgezeichnet.

Caroline war die Mutter von Claus und Bernhard Stauffenberg
Ihre Schwester Caroline war ebenfalls Hofdame in Stuttgart und heiratete Alfred Schenk Graf zu Stauffenberg, der bis 1918 ebenfalls dem württembergischen König diente.
Ihre Söhne Claus und Berthold waren maßgeblich am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurden hingerichtet. An dem Attentat beteiligt war auch Nikolaus, der Bruder von Alexandrine und Caroline.

Gertrud Schwend-Üxküll

Gertrud Schwend-Üxküll, die Gründerin des ersten Mädchengymnasiums in Württemberg

Und dann gibt es noch Gertrud Schwend, geborene Üxküll-Gyllenband, die Gründerin des ersten Mädchengymnasiums in Württemberg, dem zweiten in ganz Deutschland. Das ist das heutige Hölderlingymnasium in Stuttgart. Sie wurde 1867 in Riga geboren, legte in Genf ihr Abitur ab und studierte an der dortigen Universität Philosophie, Geschichte und Literatur. Mit ihrem späteren Ehemann Friedrich Schwend übersiedelte sie nach Stuttgart, wo sie mit Hilfe ihrer weitläufigen Cousine Olga, der Palastdame, 1899 das Mädchengymnasium gründete. Sie wurde die Rektorin, ihr Mann wurde als Lehrer eingestellt. Aber schon zwei Jahre später starb sie und die Leitung der Schule übernahm Leontine Hagmaier. Das Grab von Gertrud Schwend befindet sich auf dem Pragfriedhof.

Also eine illustre Familie, aus der die Besitzer des Hauses Wildbader Straße 14 stammten.

Aber was passierte weiterhin mit dem Haus, nachdem es Emil Bregenzer Anfang der 1920er Jahre gekauft hatte?

Ab 1922 Firmensitz von Bregenzer

Es wurde der Sitz der Firma L. Bregenzer, die Berg- und Hüttenprodukte verkaufte. Sie hatten hier ihr Büro, am Cannstatter Güterbahnhof befand sich ihr Lager. Im ersten Stock hatte Emil Bregenzer auch seine Wohnung.
Da das Haus heute nicht aussieht, als wenn es aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt, nehme ich an, dass es damals umgebaut worden ist. Vielleicht aufgestockt, vielleicht wurde die Hofeinfahrt überbaut?

Kutschereibetrieb im Hinterhaus

Im Hinterhaus, Nummer 14a, das Emil Bregenzer ebenfalls erwarb, gab es seit den 1890ern einen Kutschereibetrieb. Dieser wurde zunächst von Friedrich Schmidt betrieben und später von Paul Schmidt, der dann auch Autos vermietete.
Diese teilweise gewerbliche Nutzung der beiden Gebäude erklärt die große Hofeinfahrt des Hauses.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart gehörte das Haus der Familie Bregenzer und war auch weiterhin Sitz der Firma Bregenzer. Wahrscheinlich sind es deren Erben, die nun zusammen mit einem Investor die Neubebauung planen.

Elisabeth Skrzypek

Literatur

Uli Nagel: Anwohner fürchten um das Kursaalviertel, Stuttgarter Zeitung, 11.3.24, S. 21

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Das Anna-Herrigel-Haus

Das Anna-Herrigel-Haus in der Wildbader Straße fällt auf. Seit der Renovierung haben die Fenster bunte Rahmen und auf der Hauswand prangt die Hausnummer 16. Schaut man auf das Schild, dann fällt eine weitere Besonderheit auf: Dies Haus ist ein Studentinnen-Heim! Nur für junge Frauen! Wie kann das sein?

Es lohnt sich, einen Blick in die Geschichte des Hauses zu werfen.

Das Haus der Familie Jacobi

Das Haus, das früher auf diesem Grundstück stand (damals Uhlandstraße 16), wurde um 1885 gebaut und gehörte Leonhard Jacobi. Dieser war der Sohn des Mathematikers Carl Gustav Jacob Jacobi und der älteste Bruder der Übersetzerin Margarethe Jacobi. Leonhard Jacobi hatte dieses Haus für seine Mutter Marie und seine Schwestern Margarethe, Susanne und Gertrud gekauft. Alle drei Schwestern waren unverheiratet und mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Susanne Jacobi war als Zeichenlehrerin an der Höheren Töchterschule in Cannstatt angestellt. Margarethe arbeitete sehr erfolgreich als Übersetzerin aus dem Englischen ins Deutsche und brachte so die Klassiker Onkel Toms Hütte, Tom Sawyer und Sherlock Holmes nach Deutschland.
Diese vier Frauen bewohnten das Erdgeschoss und vermieteten die erste und die zweite Etage, um so ihren Lebensunterhalt mitzufinanzieren.
(Näheres über diese Familie im Text über Margarethe Jacobi)

Das Haus ging als Erbe an den Württembergischen Lehrerinnenverein

1891 übertrug Leonhard Jacobi den Besitz auf die Mutter Marie, nach deren Tod ging das Haus an die Töchter. Als Margarethe 1910 als letzte der Frauen starb, gab es keine direkten Erben.
Margarethe Jacobi vermachte das Haus dem Württembergischen Lehrerinnenverein, der 1890 von Sofie Reis und Mathilde Planck gegründet worden war. Margarethe schrieb in ihrem Testament:

„Mein Haus nebst Garten in Cannstatt in der Uhlandstraße 16 soll der Württembergische Lehrerinnenverein erben. Die Parterre-Etage soll als Erholungsheim und Versammlungslokal dienen, der Dachstock zum Logieren, hauptsächlich von Lehrerinnen. Aus den jeweiligen Lehrerinnen der Höheren Töchterschule zu Cannstatt soll ein Komitee gebildet werden, das über alle praktischen Fragen entscheidet. Die Steuern und alle aus der Erhaltung von Haus und Garten erwachsenden Kosten sollen aus dem Ertrag des Dachstocks und dem Mietzins der Belletage bestritten werden, die wie bisher an eine Familie vermietet werden kann. Was von der Einrichtung des Hauses, das den Namen Jacobi-Heim erhalten soll, zur Ausstattung und zum Schmuck der Zimmer dienen kann, soll der Verein behalten … Aus der Bibliothek soll das Komitee alles für das Jacobi-Heim Passende auswählen, und das übrige der Cannstatter Volksbibliothek als mein Vermächtnis zusenden.“

Das Haus wurde nun also im Sinne von Margarethe Jacobi als Wohnheim für Lehrerinnen genutzt, die in Deutschland bis 1951 unverheiratet sein mussten, in Baden-Württemberg galt der Lehrerinnenzölibat sogar bis 1956.
Das ganze Haus wurde daher 1912 in kleine Wohnungen aufgeteilt, die an Lehrerinnen oder ehemalige Lehrerinnen vermietet wurden.

Verwaltet wurde das Haus bis 1932 von Fräulein Frobenius, die als Zeichenlehrerin Susanne Jacobi an der Höheren Töchterschule abgelöst hatte. 1932 übernahm die baltische Musiklehrerin Frau Seewald diese Aufgabe. Die Oberlehrerin Maria Leimenstoll, die Zweite Vorsitzende des Württembergischen Lehrerinnenvereins Cannstatt, übernahm die verantwortliche Leitung der Heimangelegenheiten.

In dem Haus wohnten 1932 neun zahlende Mieterinnen und zwei nichtzahlende. Das waren Fräulein Frobenius und Frau Seewald. Die zahlenden waren zumeist ehemalige Lehrerinnen, die für die Wohnungen zwischen 25 und 45 Mark pro Monat zahlten.
Bis 1923 gab es auch einen „Kosttisch“ für die älteren und die in Cannstatt tätigen Lehrerinnen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurde der Lehrerinnenverein gleichgeschaltet und musste das Haus an die Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg übertragen.

Zerstörung und Wiederaufbau

Beim Bombenangriff 1943 wurde das Haus vollständig zerstört. Die Bewohnerinnen überlebten zwar im Luftschutzkeller, aber bei dem anschließenden Feuer brannte alles nieder und sie verloren ihr Hab und Gut, einschließlich der Erinnerungsstücke an die Familie Jacobi.

1948 wurden die letzten einsturzgefährdeten Mauerreste abgerissen und der Württembergische Lehrerinnenverein bemühte sich um das Grundstück, um dort wieder ein Heim für Lehrerinnen zu bauen. Und hier kommt nun Anna Herrigel ins Spiel.

Die Lehrerin Anna Herrigel setzt sich für den Wiederaufbau ein

Faberstraße in Gaisburg

Anna Herrigel wurde 1886 in Calw als Tochter eines Lehrers geboren und arbeitete als Handarbeitslehrerin in Gaisburg, zunächst auch in Cannstatt. Sie wohnte zusammen mit ihren Eltern in der Faberstraße in Gaisburg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg saß Anna Herrigel von 1946 bis 1948 für die CDU im Stuttgarter Gemeinderat. In dieser Zeit kämpfte sie zunächst vehement für den Wiederaufbau des Hauses ihrer Familie in Gaisburg, sodass sie 1949 wieder einziehen konnte.

Da Anna Herrigel Mitglied des Württembergischen Lehrerinnenvereins in Stuttgart war, setzte sie sich anschließend für den Neubau des Lehrerinnen-Heims in der Wildbader Straße ein. Das Haus wurde dann tatsächlich 1954 eröffnet und erhielt nach ihrem Tod 1955 den Namen Anna-Herrigel-Haus – in Anerkennung ihres Engagements für das Heim.

Erinnerungen von Waltraud an das Lehrerinnenheim

Das Anna-Herrigel-Haus hatte kleine Wohnungen. Waltraud, die in den 1970er Jahren dort wohnte, erzählt, dass es eigentlich keine wirklichen Wohnungen waren. Gemeinschaftsküche, Bad und Toilette für fünf Wohnungen pro Etage waren auf dem Flur. Im Eingangsbereich der einzelnen Apartments gab es einen Einbauschrank für Küchensachen und ein Waschbecken. Ins Zimmer selber passten ein Schreibtisch, ein kleiner Esstisch und ein paar Sessel. Das Bett war durch einen Vorhang abgetrennt.

Einige der Apartments hatten auch einen Balkon. Das Zimmer von Waltraud hatte keinen, aber sie hatte einen schönen Blick in den wunderbaren Garten.

Telefon gab es nicht auf dem Zimmer, sondern nur eines für alle Bewohnerinnen am Kellerabgang. Wenn es klingelte, hörten das alle im Haus und jede überlegte, ob es vielleicht für sie sein könnte, ob sich ein Spurt nach unten lohnt.

Die Gemeinschaftsräume wurden von den Vermietern gereinigt, für die Zimmer war natürlich jede Frau selber zuständig.

Auf ihrem Stock war Waltraud damals die Jüngste. Im Haus wohnten noch einige ältere (ehemalige) Lehrerinnen. Einige Bewohnerinnen hatten auch zwei Zimmer. Die Wohnungen wurden damals nach ihrer Erinnerung vom Württembergischen Lehrerinnenverein vermietet.

Für Waltraud war dieses kleine – aus heutiger Sicht spartanische – Apartment genau richtig. Sie meint, sie sei damals noch „studentisch“ eingestellt gewesen, hatte vorher schon in einer WG gelebt. Nun kam ihr, als sie nach Stuttgart wechselte, das Wohnen im Anna-Herrigel-Haus sehr zupass. Das Apartment war zudem so preiswert, dass sie es behalten konnte, selbst als sie für ein Jahr nach Frankreich ging. „Mich hats noch raus gezogen und ich wollte mich gar nicht so etablieren.“
Nach ihrem Jahr in Frankreich arbeitete sie dann aber noch viele Jahre als Lehrerin an der Martin-Luther-Schule.
Nach etwa sieben Jahren zog Waltraud aus dem Anna-Herrigel-Haus aus: in eine „richtige“ Wohnung, die direkt gegenüber am Kurpark lag.

Übergabe an das Studierendenwerk – als Studentinnenheim

Da es keinen Bedarf an preiswertem Wohnraum für unverheiratete Lehrerinnen mehr gab, übergab der Lehrerinnenverein das Haus Mitte der 2000er Jahre an das Studierendenwerk Stuttgart, allerdings unter zwei Bedingungen: Zum einen durften die Lehrerinnen, die damals noch im Haus wohnten, auf Lebenszeit im Haus wohnen bleiben. Zum anderen sollte das Haus ausschließlich an Studentinnen vermietet werden. Das erklärt, warum bis heute in dem Haus nur Studentinnen wohnen.

Das Haus wurde 2018 grundlegend saniert und beherbergt seitdem 29 Einzelzimmer.

Heute erinnert im Haus eine Gedenktafel an die Geschichte des Hauses.

Literatur

  • Jacqueline Meintzinger: Die Übersetzerin Margarethe Jacobi, in: The Baker Street Chronicle, Nr. 50, 2023, S.26 – 35
  • Trümmerfrauen der Kommunalpolitik. Frauen im Stuttgarter Gemeinderat 1945 bis 1960, hg. vom Stadtarchiv Stuttgart, Stuttgart 2013, Anna Herrigel S. 25

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  • Die Bilder sind alle privat

Margarethe Jacobi: Übersetzerin aus Cannstatt

Wildbader Straße 6 (ehemals Uhlandstraße)

Wer kennt nicht Sherlock Holmes, Onkel Toms Hütte oder Tom Sawyer? Diese Bücher, die seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland viele Fans haben, sind von Margarethe Jacobi in der Wildbader Straße in Cannstatt übersetzt worden.

Jacqueline Meintzinger forschte über die Übersetzerin Margarethe Jacobi

Im Rahmen ihrer Forschung über Margarethe Jacobi hatte Jacqueline Meintzinger mich auf die Höhere Töchterschule in Cannstatt angesprochen. Jetzt hat sie ihre Forschungsergebnisse in einem Aufsatz in The Baker Street Chronicle veröffentlicht.

Margarethe wurde in eine ausgesprochen interessante Familie geboren. Ihre Mutter Marie Schwinck entstammte einer sehr angesehenen Familie in Königsberg, die mit geistigen Größen wie Immanuel Kant ebenso verkehrte wie auch mit der Familie des preußischen Königs. Es gab Künstler und Salondamen.

Margarethe Jacobi entstammte einer eindrucksvollen Familie

Der Vater Jacob Jacobi

Ihr Vater Carl Gustav Jacob Jacobi war ein sehr berühmter Mathematiker. Ihr Onkel Moritz Jacobi, also Jacobs Bruder, war ein ebenso berühmter Physiker.

Die Genialität lag also in ihrer Familie. Von ihrem Vater wird gesagt, dass er sowohl mathematisch, als auch sprachlich begabt war. Diese letztere Begabung vererbte er seiner Tochter Margarethe.

Jacob Jacobi und Marie Schwinck hatten acht Kinder, bevor Jacob mit nur 47 Jahren 1851 starb.
Der Mathematiker Peter Gustav Lejeune Dirichlet übernahm die Vormundschaft über die Kinder (die Mutter durfte das nicht!) und sorgte dafür, dass die Witwe Marie Jacobi vom preußischen Staat, für den ihr Mann gearbeitet hatte, finanziell unterstützt wurde. Auch der berühmte Forschungsreisende Alexander von Humboldt hatte sich beim Staat für die Witwe eingesetzt.

Die Brüder wurden nach berühmten Mathematikern benannt, starben aber zumeist früh

Alle Söhne wurden nach berühmten Mathematikern benannt, die Mädchen hießen einfach nur Margarethe, Gertrud und Susanne, lebten allerdings länger als ihre Brüder. Diese starben fast alle in jungen Jahren. Teils, weil sie kränklich waren, teils in einem der Kriege. Alle acht Kinder hatten keine Nachkommen.

Der einzige, der geheiratet hatte, war Leonard, der Älteste, der nach dem Mathematiker Leonhard Euler benannt worden war. Er war Professor für Rechtswissenschaften an der Berliner Universität und schrieb unter anderem ein Buch über Das Persönliche Eherecht des bürgerlichen Gesetzbuches für für das Deutsche Reich, das er seiner Mutter widmete. Er starb 1900 mit 68 Jahren und stiftete in seinem Testamt der Berliner Universität ein Kapital, mit dessen Zinsen Arbeiten auf dem Gebiet des Schulwesens, der Volksbildung und der Volksgesundheit finanziert werden sollten. Allerdings erst, wenn sich Frauen an der Berliner Universität immatrikulieren durften! Also offensichtlich ein moderner und der „Frauenfrage“ gegenüber aufgeschlossener Mann. Man kann davon ausgehen, dass die Situation seiner drei Schwestern, die alle drei Lehrerinnen waren, ihn beeinflusst hatte.

Alle drei Töchter wurden Lehrerinnen

Margarethe war das fünfte Kind der Familie und die älteste der drei Töchter. Sie wurde 1840 in Königsberg in diese teilweise geniale und auch wohlhabende Familie geboren. Der Familienbesitz schmolz aber kurz nach ihrer Geburt total zusammen, das familieneigene Bankhaus ging in Konkurs. Die Familie zog zunächst nach Berlin und dann in das preiswertere Gotha. Doch die Bildung der Kinder, der Söhne und auch der Töchter, war den Eltern sehr wichtig. Die Mädchen besuchten wahrscheinlich alle eine Höhere Töchterschule und erhielten eine Ausbildung als (Haus-) Lehrerin. In diesem Beruf arbeitete Margarethe, bevor sie nach Cannstatt kam: in Berlin, in Gotha, in Schlesien und in St. Petersburg. Diese Anstellungen hatte sie wahrscheinlich über ihre weitverzweigte Familie vermittelt bekommen.

Nach Cannstatt zog die Mutter mit ihren drei unverheirateten Töchtern 1865. Grund für die Übersiedlung war die Krankheit des dritten Sohns Adrian, der hier in Cannstatt lebte und als Ingenieur 1865 eine Patentschrift eingereicht hatte. Cannstatt war zu dem Zeitpunkt eine aufstrebende Industriestadt, in der technische Innovationen gebraucht wurden und auch umgesetzt werden konnten. Mutter und Schwestern wollten Adrian pflegen, doch er starb bereits im gleichen Jahr. Mutter Marie blieb mit ihren drei Töchtern Margarethe, Susanne und Gertrud in Cannstatt. Wahrscheinlich weil diese hier in Cannstatt mit den vielen angesehenen Schulen als Erzieherinnen Arbeit finden konnten.

Susanne Jacobi unterrichtete an der Höheren Töchterschule

Gertrud wurde1845 geboren und verdiente sich ihren Lebensunterhalt wahrscheinlich mit Privatstunden. Sie wurde 64 Jahre alt.
Susanne, geboren 1842, arbeitete von 1874 bis 1884 als Zeichenlehrerin an der Höheren Mädchenschule in Cannstatt, dem Vorläufer des heutigen Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums.

Höhere Töchterschule in Cannstatt

Dort unterrichtete sie auch Johanna Koch, die später an die Königliche Kunstschule in Stuttgart ging und eine bekannte Malerin und Bildhauerin wurde.
Als Susanne 1884 schwer erkrankte, musste sie ihre Anstellung an der Schule aufgeben. Zunächst wurde sie von ihrer Schwester Gertrud vertreten, die aber wahrscheinlich nicht über die gleiche Qualifikation verfügte. Denn der Rektor Emil Conz stellte eine neue Zeichenlehrerin ein: Fräulein Frobenius, die später noch eine wichtige Rolle spielen sollte.
Susanne starb 1892 im Alter von 49 Jahren.

Bereits 1876 übertrug Margarethe Tom Sawyers Abenteuer und Streiche von Mark Twain vom Englischen ins Deutsche. Dies Buch wird auch heute noch genau in dieser Übersetzung angeboten. Wie sie diesen Auftrag erhalten hat, wie der Verleger auf sie aufmerksam wurde, ist leider nicht bekannt.
Zunächst folgten auch keine weiteren Übersetzungen.

Einrichtung einer Mädchenpension in der Wildbader Straße 6

Haustür Wildbader Straße 6

Marie Jacobi wohnte zusammen mit ihren Töchtern zunächst an unterschiedlichen Adressen in Cannstatt zur Miete, bevor 1880 der Bruder Leonard das Haus in der Uhlandstraße 6 (heute Wildbader Straße) kaufte und es der Mutter und seinen Schwestern überließ. Die Mutter richtete dort eine Familienpension für junge Mädchen ein, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eventuell hat Margarethe diese Pension zusammen mit ihrer Mutter geführt.
In Cannstatt gab es, wie schon erwähnt Höhere Töchterschulen, die auch Mädchen von außerhalb besuchten. Damit sie „anständig“ untergebracht waren, brauchte es eben auch Familienpensionen. Eine solche betrieben nun die Jacobi-Frauen in der heutigen Wildbader Straße 6.

Dies Haus verkaufte der Bruder aber bereits fünf Jahre später und erwarb dafür das Haus Nummer 16 in der gleichen Straße, das gerade erst fertiggestellt worden war. Dies Haus stand dort, wo sich heute das Studentinnenwohnheim befindet.
Mutter Marie wohnte dort zusammen mit ihren Töchtern im Erdgeschoss, der erste und zweite Stock wurden vermietet. Eine Pension gab es in Haus Nummer 16 nicht, das lohnte sich wahrscheinlich nicht mehr. Die Anziehungskraft Cannstatts für Höhere Töchter von außerhalb ließ mit zunehmender Industrialisierung nach.
Eigentümerinnen waren ab 1891 die Marie Jacobi und ihre Töchter.

Seit 1876 arbeitete Margarethe Jacobi als Übersetzerin

Margarethe Jacobi hatte 1884 ihr erstes eigenes Buch herausgegeben: Immergrün – Classische Denksprüche in Poesie und Prosa für alle Tage des Jahres. In diesem Buch findet sich auch ein Gedicht von ihr. In den folgenden Jahren gab Margarethe noch zwei weitere ähnliche Bücher heraus.

Zudem arbeitete sie wieder als Übersetzerin für unterschiedliche Verlage. Den Klassiker Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe übersetzte sie 1888 vom Englischen ins Deutsche. Hier vermerkte der Verlag, dass Margarethe das Buch nicht nur übersetzt, sondern auch für den deutschen Markt frei bearbeitet hatte. Eine erste Übersetzung des Buches gibt es allerdings bereits aus dem Jahr 1852.
Der Stuttgarter Verleger Robert Lutz erwarb 1892 die Übersetzungsrechte für die Sherlock-Holmes-Bücher von Conan Doyle. Die ersten beiden Bücher übersetzte Margarethe Jacobi alleine, bei späteren arbeitete sie mit Louis Ottmann zusammen. Diese Geschichten über den Meisterdetektiv Sherlock Holmes wurden echte Bestseller in Deutschland.
Beim Verlag Robert Lutz erschien 1896 auch der Roman Trilby von Daphne du Maurier, den Margarethe Jacobi ebenfalls aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hatte.

1902 starb die Mutter Marie Jacobi mit immerhin 94 Jahren und Margarethe und Gertrud erbten das Haus.

Margarethe übersetzte immer wieder unterschiedliche Romane: immer wieder Bücher von Mark Twain, aber keine Geschichten mehr über Sherlock Holmes.

1909 starb Gertrud und noch nicht einmal ein halbes Jahr später Margarethe.

Margarethe vererbte das Jacobi-Heim an den Württembergischen Lehrerinnenverein

Jacobi-Heim in der Wildbader Straße 16, 1937

Margarethe war die letzte aus der ehemals so großen Familie gewesen. Es gab keine direkten Erben. Und so vermachte Margarethe in ihrem Testament das Haus in der heutigen Wildbader Straße 16 dem Württembergischen Lehrerinnenverein, der 1890 von Sofie Reis und Mathilde Planck gegründet worden war. Margarethe bestimmte in ihrem Testament:
Die Parterre-Etage soll als Erholungsheim und Versammlungslokal dienen, der Dachstock zum Logieren, hauptsächlich für Lehrerinnen. Aus den jeweiligen Lehrerinnen der Höheren Töchterschule zu Cannstatt soll ein Komitee gebildet werden, das über alle praktischen Fragen entscheidet. Die Steuern und alle aus der Erhaltung von Haus und Garten erwachsenden Kosten sollen aus dem Ertrag des Dachstocks und dem Mietzins der Belletage (1. Stock) bestritten werden, die wie bisher an eine Familie vermietet werden kann.

Das Haus erhielt nun – auf ausdrücklichen Wunsch von Margarethe – den Namen Jacobi-Heim. Ihre Bibliothek, die sicherlich sehr umfangreich war, vermachte sie der Cannstatter Volksbibliothek.
Verwaltet wurde das Jacobi-Heim bis 1932 von Fräulein Frobenius, die in der Höheren Töchterschule angestellt worden war, als Gertrud Jacobi wegen Krankheit aufhören musste.

Anna-Herrigel-Haus

Wiederaufbau des Hauses als Anna-Herrigel-Haus nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Haus wurde bei einem Luftangriff 1943 komplett zerstört, nach dem Krieg wieder aufgebaut und 1954 als Anna-Herrigel-Haus für Lehrerinnen neu eröffnet.

Anna Herrigel war Handarbeits- und Grundschullehrerin an der Gaisburger Grundschule und als solche auch Mitglied in der Württembergischen Lehrerinnenvereinigung. Von 1946 bis 1948 saß sie für die CDU im Stuttgarter Gemeinderat, wo sie sich sehr für den Neubau des Lehrerinnenheims in Cannstatt einsetzte. Daher trägt das Haus heute ihren Namen: Anna-Herrigel-Haus.

Ein Wohnheim für Studentinnen

Bis 1986 beherbergte das Haus 18 Wohnungen für unverheiratete Lehrerinnen. Da die Nachfrage nach Wohnungen für alleinstehende Lehrerinnen kontinuierlich sank, vermachte die Lehrerinnenvereinigung das Haus Mitte der 2000-er Jahre dem Studierendenwerk. Eine Bedingung war, dass die Lehrerinnen, die noch dort lebten, auf Lebenszeit wohnen bleiben dürfen. Zudem dürfen die Zimmer bis heute nur an Studentinnen vermietet werden.
Das Haus wurde grundlegend saniert und seit 2018 stehen dort 29 Einzelzimmer für Studentinnen zur Verfügung.

Nichts erinnert an die Übersetzerin Margarethe Jacobi

An Margarethe Jacobi, die so bekannte Bücher übersetzte und uns Deutschen nahebrachte, erinnert in Cannstatt leider gar nichts. Nur im Flur des Anna-Herrigel-Hauses wird sie auf der Gedenktafel als Stifterin des Hauses erwähnt. Es wird Zeit, dass in Cannstatt auch an die Übersetzerin Margarethe Jacobi erinnert wird.

Literatur

  • Jacqueline Meintzinger: Die Übersetzerin Margarethe Jacobi, in: The Baker Street Journal, Nr. 50, 2023, S.26 – 35

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